Man müsste so viel lesen. Aber was?
Susann Sitzler hat sich schon mal durch die aktuellen Neuerscheinungen gewühlt. Hier ihre Empfehlungen.
Schnee und Gras in Helsinki
„Manchmal ist es im Leben einfach so, dass euer Bruder in Wahrheit eure Mutter ist, und das ist ja nicht meine Schuld.“ So konstatiert der Ich-Erzähler in Siina Tiuraniemis Roman „Frischluftvergiftung bei minus 20 Grad“ irgendwann die absurden Ereignisse, die sein Leben mit der Wucht einer Neuschneelawine überrollen. Wo der verkrachte Student, fortgeschrittene Hobby-Alkoholiker und erklärte „Halbautist“ Miska im Grunde doch einfach bloß den harschen Winter in Helsinki unter seiner Bettdecke verbringen und vom Leben in Ruhe gelassen werden will. Doch dann willigt er ein, seiner Mutter zuliebe einer entfernten Verwandten einen Höflichkeitsbesuch im Pflegeheim abzustatten. Dabei entpuppt sich die alte Dame als so verwegene wie schwerreiche Schabracke, deren Lieblingslaster der Alkohol ist. Als sie durch einen Zufall Marihuana entdeckt, setzt sie sich allerdings in den Kopf, den arglosen Miska zum Hausdealer des Pflegeheims zu machen …
Inmitten des tollkühnen Humors ihres Erstlingsromans entwickelt die finnische Bibliothekarin Siina Tiuraniemi einen warmherzigen Blick auf ihre Figuren. Diese sind bei genauem Hinsehen nämlich gar nicht mehr so absonderlich. Sondern einfach nur mit der Komplexität des Menschseins etwas überfordert. Rasant und liebevoll – nicht nur für Finnlandfans.
Information
Siina Tiuraniemi: „Frischluftvergiftung bei minus 20 Grad“. Deutsch von Tanja Küddelsmann.
dtv premium, 288 Seiten, 14,90 Euro.
Kunst und Schimären
Schon mit Dreißig hat Karl Sund es geschafft: Mit seinen in Vakuum versiegelten Objekten ist er als Künstler in Berlin arriviert. Und das aus eigener Kraft. Tatsächlich trägt Karl den Namen Stiegenhauer und ist Sohn eines der bedeutendsten Künstlerpaare der Gegenwart. Ada und August Stiegenhauer haben ihre symbiotische Liebe und das gemeinsame Schaffen zum Zentrum ihres künstlerischen Werks gemacht. Als Ada mit einem Gehirntumor ins Krankenhaus kommt, entflieht August der Angst vor ihrem Tod, indem er sich vorsorglich erhängt. Zur seiner Beerdigung reist Karl, der seine Jugend in Internaten verbrachte und den Eltern entfremdet ist, in deren Villa nach Leinsee. Während sich seine Mutter überraschend wieder erholt, bleibt Karl nichts übrig, als sich mit den Gespenstern und Schimären des elterlichen Überuniversums zu arrangieren – und darin seinen eigenen Platz als Sohn und als Künstler zu finden.
Scheinbar schlicht erzählt die Berliner Autorin Anne Reinecke in „Leinsee“ von der reinigenden Kraft, die bildende Kunst entwickelt, wenn schöpferische Menschen sich auf ihre inneren Impulse verlassen. Nach und nach schafft sie dabei einen Sog von wunderbaren Bildern, die nachwirken wie der Besuch einer grandiosen Kunstausstellung.
Information
Anne Reinecke: „Leinsee“.
Diogenes, 368 Seiten, 24,– Euro.
Vorväter der Wissenschaft
Können Pflanzen sehen? Entwickeln sich Lebewesen innerhalb einer Spezies weiter? Verbrennt der menschliche Körper Nahrung genauso, wie ein Ofen Holz verbrennt? Über Antworten, die heute jedes Kind gähnend zur Kenntnis nehmen kann, zerbrachen sich einst große Forscher mithilfe vieler Helfer ein Leben lang die Köpfe. In „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ widmet sich der
Autor Michael Lichtwarck-Aschoff vier wissenschaftlichen Durchbrüchen des 18. und 19. Jahrhunderts.
In einem Reigen meisterhaft komponierter Erzählungen zeigt der einstige Intensivmediziner, der im Ruhestand mit dem literarischen Schreiben begann, unter welchen Umständen und beeinflusst von welchen Milieus bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht wurden. Dabei legt er mit sensibler Wahrnehmung und sicherem Gefühl für Sprache und Tonfall nicht nur die inneren Beweggründe seiner Figuren – und ihrer Helfer – frei. Sondern lässt auch nach und nach die gesellschaftlichen und historischen Kräfte erkennbar werden, in denen die bis in unsere Gegenwart bedeutsamen Erkenntnisse möglich wurden. Dicht, lehrreich und betörend schön geschrieben.
Information
Michael Lichtwarck-Aschoff: „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte: Vier Entdeckungen“.
Klöpfer&Meyer Verlag, 244 Seiten, 22,– Euro.
Architektur brutal
Manche Gebäude erscheinen auf den ersten Blick so grobschlächtig, dass manche sich fragen, was einen Architekten zu so bunkerartigen Klötzen, schroffen Fassaden und trostlosen Mauern bewogen haben könnte. Genau hier verläuft der Unterschied zwischen dem geschulten und dem Laienblick. Was Letzterem als Ausgeburt geschmackloser Menschenfeindlichkeit – oder gleich Symbol für die Seelenlosigkeit der modernen Welt an sich – erscheinen mag, kann für Kennerinnen und Kenner ein spannendes Baudenkmal sein: ein Beispiel für die Stilrichtung des Brutalismus.
„SOS Brutalismus“ heißt der Katalog, der zur ersten umfassenden Bestandsaufnahme dieser umstrittenen, weltweit prägenden Baurichtung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main erschienen ist. Die erste Blüte erlebte der Brutalismus in den 1950er bis 1970er Jahren. Angestrebtes Hauptmerkmal waren die Sichtbarkeit von Konstruktion und Grundriss und – ehrlicher Beton. Ein berühmter Vertreter: Le Corbusier. Für Architekturinteressierte beleuchtet der spektakulär bebilderte Band mit Beiheft viele unbekannte Nischen. Laien spendet er Trost. Denn wenn man erst mal erkennt, dass die Brutalisten bauend nach Deutlichkeit, Klarheit und Ehrlichkeit strebten, beginnt man zu ahnen, dass noch die erschütterndste Mehrzweckhalle womöglich eine architektonische Seele hat. Und schon sieht die Welt an manchen Ecken ein wenig freundlicher aus.
Information
Oliver Elser, Philip Kurz, Peter Cachola Schmal (Hrsg.): „SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme “.
park books, 716 Seiten, 68,– Euro.