Stummfilm Comeback

Der Stummfilm ist im Aufwind. Weltbekannten Tonfilmen wird einfach die Musik abgedreht, dafür spielt ein Orchester. Und die Retropektive der diesjährigen Berlinale hat das deutsche Kino zwischen 1918 und 1933 ins Rampenlicht gerückt.

Es herrschte Aufbruchstimmung in Literatur und bildender Kunst – und dem stand der Film nicht nach. Ernst Lubitsch, Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau drehten Filme, die Klassiker geworden sind. Für den „Film noir“ war der deutsche Expressonismus der Stummfilmzeit Vorbild und noch heute bedienen sich Horrorstreifen bei den Meistern. Viele Filme aus dieser Zeit wurden wiedergefunden und restauriert. Es gibt etliche Erstaufführungen, die schon spektakulär klingen, wie den Bergfilm „Kampf ums Matterhorn“ von Mario Bonnard und Nunzio Malasomma und Robert Reiners Monumentalfilm „Opium“. Letzterer wird von Robert Siedhoff vertont.

Aber fälschlicherweise wird diese Film-Epoche auch mit „Stummfilmzeit“ überschrieben, weil von der Leinwand kein Ton kam. Aber dafür saßen unten der Mann am Klavier oder das kleine Orchester. Seit Beginn der laufenden Bilder 1895 wurden diese live mit Musik begleitet. Sie sorgte für die jede Filmsequenz unterstreichenden Emotionen. Liebe, Romantik, Drama, Mord, schwere Stürme, ruhige See fanden eine musikalische Begleitung. Möglicherweise waren auch die Projektoren zu laut oder das Publikum fürchtete sich in der Stille – so ein Mord ohne Schrei oder eine Liebesszene ohne gefühlige Geräuschkulisse wirken befremdlich. Es entstand ein eigener Musikzweig, eine spezielle Kunstrichtung. Die Stummfilmbegleiter bedienten sich zunächst am Repertoire aus Oper, Konzert, Unterhaltungsmusik – eine Melange, die bald nicht mehr genügte. „Cue Sheets“, Blätter mit Fingerzeigen wurden herausgegeben, ganze Kompendien mit hilfreichen musikalischen Handreichungen, die Charakter, auch den der Hauptfiguren, Tempo und Musikgenre für den Film festlegten, entstanden. Und bei den Genres wurde gnadenlos bunt gemischt – von Kinderlied bis Oper war alles dabei. So ein Stummfilmmusiker war ein geplagter Mann. Aber es flutschte. Jede Woche wurde ein neues Filmprogramm ins Kino geliefert. Der Kapellmeister sah es an, stellte die entsprechenden Musiker zusammen und „Film ab“. Freilich gab es auch durchkomponierte Stücke zu Filmen, beispielsweise schuf Edmund Meisel die Musik zu Eisensteins „Panzerkreuzer Potem­kin“ und zu „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ von Walter Ruttmann.

Aber dann kam der Film mit Ton von der Leinwand, und damit das „Aus“ für eine ganze Musikerbranche. Dabei gingen 90 Prozent der Stummfilme verloren. Das lag zum einen am Material. Das Filmmaterial Zellulose-Nitrat zersetzte sich selbst. Zum anderen galten viele Filme in den Augen der Nachgeborenen als nicht mehr sehenswert. Was vermutlich stimmte. Die musikalischen Handreichungen, die es zu den Streifen gab, waren ebenfalls perdu.

Anfang der 1980er Jahre setzte ein Geschichtsbewusstsein für alte Filme ein. Noch vorhandenes Material wurde nach und nach rekonstruiert. Heute sind Perlen der Filmgeschichte wieder auf Leinwand und DVD zu haben.

Richard Siedhoff war ein kleiner Junge, als sich der Stummfilm anschickte, wieder ins Rampenlicht zu treten. Er lernte Klavier spielen, studierte Musikwissenschaft und hatte eine Affinität zum Film. Film oder Musik musste für sein weiteres Leben keine Frage sein – die Auferstehung des Stummfilms bot die Antwort. „Der Beruf hatte mich gefunden“, sagt der heute 30-Jährige. Und er ist damit einer der jüngsten Stummfilmmusiker und hat schon mehr als 200 Filme im Repertoire.

Jetzt spielt er zum ersten Mal auf der „Berlinale“. „Abwege“ von Georg W. Papst kannte er schon. „Opium“ von Robert Reinert und „Heimkehr“ von Joe May sind für ihn neu. „Es hilft schon ungemein, wenn man sich in der Zeit und mit dem jeweiligen Regisseur und seinem Werk etwas auskennt,“ erklärt er seine Arbeitsweise. Mehrmals sieht er einen Film, legt musikalische Motive für die Hauptpersonen fest, ein Leitmotiv, strukturiert die Szenen – er komponiert den Film und improvisiert mit Konzept. „Der Film ist mein Notenpult“, sagt er. Auf vielen Festivals ist Siedhoff zu Gast. Und er löst sich vom Klavier und komponiert für Orchester, aber nur, wenn es auch alte Filme mag. Der kongeniale Partner ist das Metropolis Orchester Berlin, ein ganz junger Klangkörper, der sich erst vor einem Jahr gegründet hat, und die Tradition der Stummfilmorchester wieder aufnehmen will. Siedhoff schrieb die Musik zu Murnaus „Der Gang in die Nacht“ für das Orchester.

Der Stummfilm ist im Aufwind. Und zwar aus noch einer ganz anderen Richtung. Weltbekannten Tonfilmen wird einfach die Musik abgedreht und ein Orchester spielt dazu. Das Filmorchester Babelsberg macht mit dieser neuen Stummfilmvariante seit einiger Zeit von sich reden: „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, „Der Herr der Ringe“, James Bonds „Casino Royal“ oder „Star Wars“ läuft auf der Leinwand und unten spielt das Orchester die Filmmusik live. Den passionierten Stummfilmmusiker Richard Siedhoff freut dieser Trend einerseits, denn der Fokus liegt auf der Musik: Das Kino wird zum Konzertsaal oder umgekehrt. Aber mit dem Event-Charakter solcher Filmkonzerte kann er sich noch nicht so richtig anfreunden. Aber es ist eindeutig: Der Stummfilm ist irgendwie im Kommen – nicht nur auf der Retrospektive der Berlinale.

Martina Krüger

 

73 - Winter 2018
Kultur