Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze. Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: Der Savignyplatz in Charlottenburg
Unter dem S-Bahnbogen am Savignyplatz wird noch einmal die Schlacht aller Schlachten geschlagen. Waterloo. Es regnet, wie damals, im Frühjahr 1813 in Belgien, und auch diesmal ist Hunger im Spiel. Aber es ist friedlich an diesem Märztag in Charlottenburg, die Schlacht spielt sich im Literarischen ab. Ein Obdachloser mit Bart und Brille sitzt in eine Decke gehüllt still auf einer Tasche mit seinen Habseligkeiten und liest versunken in Bernhard Cornwalls Bestseller über Napoleons Untergang. Ab und zu werfen Passanten ein paar Münzen in den Plastikbecher, den der Mann vor sich aufgestellt hat, er nimmt das kaum wahr. Und wird eigentlich auch kaum wahrgenommen.
Ein paar Schritte weiter, im Einstein Kaffee, trinken gut gekleidete Damen und Herren Cappuccino und gönnen sich dazu ein spätes Vormittags-Sahnetörtchen, Belgische Waffel oder New York Cheesecake. Ein junger Mann kommuniziert mit seinem Laptop, aber vor allem wird traditionell Zeitung gelesen, Tagesspiegel, Süddeutsche oder Neue Zürcher. Gutbürgerlich geht es hier zu. In den Straßen rund um den Savignyplatz lebt wohlhabendes Bürgertum, solide, etwas bieder, in die Jahre gekommen.
„Der Kudamm ist nur einen Steinwurf weit weg“, schrieb ein Beobachter, der die Zeit erlebte, als der Platz ein pulsierendes Zentrum im zugemauerten Westberlin war. „Theater, Nobel-Restaurants, die umtriebige Bleibtreustraße, die Kantstraße mit Kinos und Musik-Clubs wie dem ‚Quasimodo‘, die Universität der Künste und die TU befinden sich praktisch um die Ecke. Künstler und Anwälte, Studenten und Profs, Touristen und spätere Terroristen, Journalisten und Politiker, aber auch Finanzbeamte und Staatssekretäre – tout Berlin-West versammelte sich in den Kneipen rund um den Platz.“
Nach dem Mauerfall verlief sich das alles in der offenen Stadt mehr Richtung Mitte und Prenzlauer Berg. Aber einer der schönsten Orte in Berlin ist der Savignyplatz immer noch und gewinnt wie die ganze Gegend langsam wieder an Attraktivität. Links und rechts der Kantstraße erstreckt sich kreisrund die Gartenanlage mit gepflegten Rasenflächen, Platanen und Holzbänken in laubenähnlichen Sitzecken.
Ursprünglich war geplant, hier ein Wendebassin für Ausflugsdampfer statt eines Stadtplatzes anzulegen. Er sollte Teil des Süd-West-Kanals werden, der dann aber zugunsten des Teltowkanals doch nicht gebaut wurde. 1895 wurde der Platz dann als typischer Schmuckplatz erstmals gestaltet, um die städtische Bebauung aufzulockern, zu durchlüften. Die entstand in der Epoche von Jugendstil und Art déco, gutbürgerliche Gebäude, mit Marmor und Messing in den eleganten Treppenaufgängen.
Die Stadtbahn eröffnete ein Jahr später hier einen Bahnhof. 30 Jahre später gab Berlins Gartenbaudirektor Erwin Barth dem Platz seine heutige Form. Sieben Straßen münden in das Rondell, und doch spürt man beim Ausruhen auf den lauschigen Bänken noch heute kaum die lärmige Stadt. Ach ja, Savigny. Das klingt sehr französisch und gibt dem Platz zusätzlichen Charme. Dabei war der Namenspatron, Friedrich Carl von Savigny, ein ziemlich trockener, wenn auch berühmter Jurist und Finanzbeamter, aber mit französischen Wurzeln. Der Berliner betont den Namen übrigens auf der zweiten statt der dritten Silbe.
In der gut sortierten Buchhandlung in den S-Bahnbögen findet man manches über die Künstler und Literaten, die einst hier lebten: Gerhart Hauptmann, Hedwig Courths-Maler, Erich Mühsam und, nicht lange, George Grosz. Der berühmte Maler wurde nur sechs Wochen nach seiner Rückkehr aus der Emigration morgens von der Zeitungsfrau im Eingang des Hauses seines Schwagers am Savignyplatz gefunden. Der große Porträtist der Weimarer Republik war nach einer Zechtour die Treppe heruntergestürzt und seinen Verletzungen erlegen. Eine Porzellantafel am Haus Savignyplatz 5 erinnert an ihn. Die Lyrikerin Mascha Kaléko, die vor ihrer Emigration 1938 in der Bleibtreustraße 10/11 wohnte, verewigte den Platz in einem Gedicht, das sie in Amerika veröffentlichte: „Ich bin, vor jenen ,tausend Jahren’/Viel in der Welt herumgefahren./Schön war die Fremde, doch Ersatz./Mein Heimweh hieß Savignyplatz.“
Manches hat sich verändert, aber der kleine ovale Kiosk mit dem kupfernen Kegeldach steht seit über hundert Jahren am Savignyplatz. Alfred Grenander hat das Häuschen 1904 entworfen, einst diente es als Trinkhalle. Im Krieg wurde der Kiosk stark zerstört, zur 750-Jahr-Feier Berlins nach Originalplänen wieder aufgebaut und unter Denkmalschutz gestellt. Heute gibt’s dort Currywurst und dazu, das passt zum Savignyplatz, Champagner. Der Pächter sucht per Aushang für seine Bude gerade eine patente „Curry Mamsell mit berlinischem Verkaufstalent“.
Thomas Leinkauf