Ungeliebte Klötze, trendige Stadtarchitektur, bedeutende Zeitzeugen: Beton ist nicht gleich Beton. Die Spreestadt hat einiges an Betonbauten aufzubieten. Vom Kanzleramt bis zu Sakralgebäuden wie die Kirche Maria Frieden, vom Jüdischen Museum bis zum betonpreisgekrönten Bürohochhaus am Hamburger Bahnhof mit seiner selbsttragenden Sichtbetongitterfassade. Auch der einstige „Reichsbahnbunker Friedrichstraße“, der seit 2003 als Kunsthaus des Sammlers Christian Boros dient, erzählt Betongeschichte. Ein Pionier des Béton brut (roher Beton) ist Architekt Le Corbusier, von dem in Berlin exemplarisch die Wohnmaschine von 1958 im Stadtteil Westend steht.
Weithin grüßt der zehn Jahre jüngere Fernsehturm mit seinem Betonschaft, und Plattenbauten verweisen auf den industriellen Wohnungsbau der DDR. Betonbauten erzählen Geschichte. Nicht zuletzt die denkmalgeschützten Reste der Berliner Mauer und schließlich, als ein historischer Salto mortale, der Nachbau des Berliner Schlosses.
Man könnte glauben, Beton wurde in Berlin erfunden, dabei kannten den Werkstoff schon die Römer. Sie verrührten im zweiten Jahrhundert vor Christi Kalkstein mit Sand, Ziegelstaub und Wasser und bauten damit etwa die Kuppel des Pantheons. Der sogenannte Römerbeton hielt sich lange in der Geschichte. Das zwanzigste Jahrhundert aber avancierte zum Stahlbetonzeitalter.
Er ist der am meisten genutzte und modernste Baustoff, erklärt der Verkaufschef der Firma Berding Beton aus Rüdersdorf. Weltweit werden jährlich rund vier Milliarden Tonnen Zement hergestellt und verwendet. Bis zum Jahr 2050 wird eine weitere Steigerung des globalen jährlichen Verbrauchs auf bis zu fünf Milliarden Tonnen prognostiziert, heißt es im Beton-Kalender 2017. Beton sei ein „Grundnahrungsmittel“. Infrastrukturbauten, Bürogebäude, öffentliche Gebäude schlagen zu Buche, vor allem aber der Wohnungsbau als rasantes Wachstumssegment.
Beton, diese einst schlichte, inzwischen durch Beimengungen verschiedenster Materialien immer raffiniertere Mischung aus Zement, Sand, Kies und Wasser, existiert in mannigfacher Spezifik. Wer nicht vom Fach ist, benötigt ein Lexikon, wenn er über die Sorten- und Artenvielfalt des Betons, zum Beispiel Stahl- und Spannbeton für je verschiedene Lastenabtragung, Ort- oder Transportbeton, Wasch- und Sichtbeton und seine Eigenschaften bis hin zu Leichtbetonen, Faserbeton und sogar lichtdurchlässigen Beton, den Überblick behalten will. Beton ist eben nicht einfach Beton. Der Begriff Waschbeton zielt auf Verfahrenstechnik und optischen Gewinn. Hier werden eingebundene Kieselbestandteile durch Wässerung wieder freigelegt, um einen sinnlichen Effekt zu erhalten. Vorgefertigte Waschbetonplatten wurden häufig im Wohnungsbau wie in Hellersdorf und Marzahn eingesetzt. Waschbetonplatten mit weißen Flusskieseln bestimmen auch die Frontansicht der Akademie der Künste. Sie wurde 1957–60 von Werner Düttmann und Sabine Schumann als eleganter Schlusspunkt ins Hansaviertel komponiert.
Sichtbeton ist das Trendthema für elegantes, zugleich robustes Bauen. Die Betonwand ist idealerweise zugleich Stütze und Fassadenereignis. Damit kommen diverse Schalungstechniken, also das, was traditionell die Holzbretter waren, ins Spiel. Ein Beispiel für schalungsrauen Beton ist das kubische Atelierhaus der Malerin Katharina Grosse in Moabit, entworfen von Augustin und Frank. Der Bogen reicht heute von sägerau bis zu melaninbeschichteten Platten mit Hightech-Eigenschaften, um eine porenlose Betonfläche herzustellen.
Beton ist auch nicht immer grau. Durch die Veränderung der Mischungsverhältnisse und mittels raffinierter Beigaben können feine Nuancen bis fast weiß hergestellt werden. Etwa Hochofenzement plus Kalksteinmehl für die von Büttner, Neumann & Braun in Charlottenburg-Wilmersdorf gebaute St.-Canisius-Kirche. Die Faszination des Dunklen wiederum lässt sich am Wohn- und Bürohaus „L 40“ erleben. Der Name der skulpturalen schwarzen Sichtbetonarchitektur von Roger Bundschuh und der Künstlerin Cosima von Bonin verweist auf den Mitte-Standort in der Linienstraße 40.
Farbmischungen ähneln alchimistischen Geheimrezepten. Obwohl die RAL-Palette eine einfache Wahl ermöglicht, geht es um Nuancen und den besonderen, einmaligen Ton.
Gebogen oder gerade? Zaha Hadid und Daniel Libeskind haben Beton in dynamische Formen gezwungen und das Spielfeld der Bauwerke um fließende Gebilde und extreme Winkel erweitert, derweil andere klassische Formen ausgereizt haben wie Stefan Braunfels beim Paul-Löbe-Haus oder die Architekten der Schweizer Botschaft Diener&Diener. Beton erweist sich als ein flexibler Baustoff, geeignet für individuelle Handschriften von zweckrational bis expressiv, organisch oder kubisch, von wuchtig bis minimalistisch. Minimalistisch ist auch das Stelenfeld aus dunkel getöntem Sichtbeton, das Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman. Der prominente Gedächtnisort wurde dabei von einer ganz bestimmt nicht gewollten Betondebatte begleitet. Schneller als gedacht entstanden Risse. Silikoninjektionen halfen den Prozess zu stoppen.
Die Ausstellung „SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster!“, die monatelang bis Ende April dieses Jahres im Architekturmuseum Frankfurt lief, hat Beton-Architektur der 1950er bis 1970er Jahre im weltweiten Überblick gezeigt. Ihre Macher haben sich stark gemacht für ein neues Sehen und den Erhalt des ambivalenten Erbes. Denn etlichen der expressiven Kolosse droht der Abriss. Eine Rettungskampagne der Wüstenrot-Stiftung gemeinsam mit dem Architekturmuseum erweitert die Ausstellung ins Internet: #SOSBrutalism enthält eine Datenbank zu über 1000 Bauten, Kooperationspartner sind das BauNetz und das Magazin uncube.
Die besonders großen Schiffe in Berlin sind die Deutsche Oper in der Bismarckstraße und als jüngeres Beispiel aus den Achtzigern das Kunstgewerbemuseum von Rolf Gutbrod im Kulturforum. Und es gibt die Kirche St. Agnes (ursprünglich Werner Düttmann, Umbau 2015 durch Brandlhuber und Riegler Riewe). Sie gehört heute der Galerie König. Der Galerist Johann König hat mit spektakulären Inszenierungen ihre spröde Schönheit sichtbar gemacht.
Anita Wünschmann