Man müsste so viel lesen. Aber was?
Susann Sitzler hat sich schon mal durch die aktuellen Neuerscheinungen gewühlt. Hier ihre Empfehlungen.
Eine Insel mit zwei Bergen, die es nicht gibt
Die größten Fehlannahmen sind bekannt: Atlantis, Vineta, ein Binnenmeer im Innern Australiens oder Kalifornien als Insel. In seinem „Atlas der erfundenen Orte“ stellt der britische Filmwissenschaftler und Kartenfreak Edward Brooke-Hitching noch unzählige weitere Beispiele fälschlich verorteter oder gar nicht existenter geografischer Gegebenheiten vor. Detailliert bebildert er sie mit historischen Karten und erklärt die Hintergründe der Irrtümer und ihrer Aufklärung. Fehler vor allem in historischen Karten haben viele Gründe. Oft war es die schiere Schwierigkeit, überhaupt ein maßstabgetreues Abbild von Land- und Wassermassen anzufertigen, ohne von oben draufgucken zu können. Manchmal steckte aber auch Hochstapelei dahinter. Oder der bis heute übliche Versuch von Kartografen, sich vor Plagiaten zu schützen. Dazu fügen sie absichtlich inexistente Orte ein, anhand derer Abschreiber überführt werden können.
Der Atlas der erfundenen Orte ist ein amüsantes und sehr schön gestaltetes Buch, in dem man sich immer wieder festlesen kann. Wer übrigens glaubt, dass geografische Irrtümer seit Google Earth nicht mehr möglich sind, liegt falsch. Erst 2009 wurde endgültig festgestellt, dass es die seit der Renaissance auf offiziellen Seekarten eingezeichnete Insel Bermeja im Golf von Mexiko definitiv nicht gibt – und zwar von einem extra dafür ausgeschickten Forschungsschiff der mexikanischen Universität.
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Information
Edward Brooke-Hitching: „Atlas der erfundenen Orte:
Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten“.
Deutsch von Lutz-W. Wolff. dtv, 256 Seiten, 30,– Euro.
Berlin in Dunkel
Eine Obdachlose, ein frustrierter Ex-Polizist, eine unscheinbare Giftmörderin – es sind ganz unterschiedliche Protagonisten, die die Krimi-Anthologie „Berlin Noir“ bevölkern. Dreizehn namhafte Autoren von Zoë Beck bis Ulrich Woelk erzählen vom Leben in der großen Stadt, vom Scheitern der Hoffnung und Moral und von der Überforderung des Alltags. „Berlin Noir“ ist Bestandteil einer Reihe von Krimi-Anthologien, in denen ein Verlag aus New York jeweils ortsansässige Autoren zu Wort kommen lässt. Das führt zu authentischen und individuellen Geschichten. Im vorliegenden Band erst recht, weil nicht nur Autoren aus dem Krimigenre vertreten sind. Sondern etwa auch der Berliner Lesebühnenpionier Robert Rescue von den „Brauseboys“. Seine Geschichte unterscheidet sich auf den ersten Blick nur wenig von der berlintypischen Gattung der schnoddrig dahererzählten Alltagsprosa der Lesebühnen, wäre da nicht plötzlich eine Leiche in der Weddinger Bierkühltruhe. „Berlin Noir“ ist eine vom Herausgeber und Publizisten Thomas Wörtche gestaltete knackige Sammlung aktueller deutscher Krimiliteratur. Und zwar solcher, die Berlin nicht für ein bisschen Lokalkolorit verschwendet – sondern in dreizehn Geschichten den Herzschlag dieser großen Stadt zeigt, die nicht nur an den Rändern manchmal ziemlich düster sein kann.
Information
Thomas Wörtche (Hg.): „Berlin Noir“.
Culturbooks, 336 Seiten, 15,– Euro.
Fragen von Frisch
Kaum ein Kundenmagazin kommt heute noch ohne einen Fragebogen aus, in dem beliebige Personen nach ihren historischen Vorbildern oder den für sie größten Gräueln der Menschheitsgeschichte gefragt werden. Ende des 19. Jahrhunderts war die Beantwortung solcher Fragebögen ein beliebtes Gesellschaftsspiel und die überlieferten Antworten des Franzosen Marcel Proust haben das Genre berühmt gehalten. Einer, der die Kunst des richtigen Fragens weiterentwickelte, war der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. In seinem Tagebuch aus dem Jahr 1966 formulierte er Dutzende Fragebögen zu verschiedenen Themenbereichen: „Haben Sie Humor, wenn Sie alleine sind?“; „Wissen Sie, was Sie brauchen?“; „Wieso weinen die Sterbenden nie?“ Eine bibliophile Neuauflage bietet nun einen modernen Blick auf Frischs zeitlose und nur scheinbar harmlose Fragen. Durch die minimalistische Gestaltung von Janne Holzmüller – und durch ihre fast beiläufig und als Daumenkino dazwischen gesetzten Zeichnungen von Alltagsgegenständen – entsteht ein ästhetisches, inhaltlich vibrierendes Buch, das einem, wenn man sich auf die Fragen und den Leerraum dazwischen einlässt, Erkenntnisse zum eigenen Leben finden lässt. Und vielleicht sogar ein paar Antworten.
Information
Max Frisch/Janne Holzmüller: „Fragebogen“.
Edition Büchergilde, 320 Seiten, 18,– Euro.
Schwarzer Schmerz
Sowas wie Innensicht oder Sensibilität würde man der jungen Mutter Leonie nicht zutrauen, wenn man sieht, wie sie ihr Leben gestaltet: Besessen von ihrem Liebhaber, mit dem sie gerne den Crystal-Meth-Rausch teilt, lässt sie ihre dreijährige Tochter meist in der Obhut ihres fünfzehnjährigen Sohnes Jojo und hofft, dass ihre alten Eltern, bei denen alle wohnen, sich um den Rest kümmern. Doch wenn Leonie erzählt, weiß man, dass sie weiß, dass sie das Glück ihrer Kinder verwirkt. Ihr eigenes Seelenheil hat sie schon früh verloren: als ihr Bruder Given von weißen Kumpels erschossen wurde, weil er sich als Schwarzer geweigert hatte, in einem sportlichen Wettbewerb zu unterliegen.
Die Welt, die die amerikanische Autorin Jesmyn Ward in ihrem neuen Roman „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“, beschreibt, ist düster und von Toten bewohnt. Auch im Jenseits unterliegen sie noch dem Fluch des sozialen Scheiterns, der dort herrscht, wo struktureller Rassismus und innere Zerrüttung die Gesellschaft zerstören. Wards Roman, mit dem renommierten National Book Award ausgezeichnet, ist keine leichte Kost. Doch wenn man sich auf das dichte Gewebe aus Stimmen und Stimmungen einlässt, entwickelt er einen Sog, der einen kaum mehr loslässt.
Information
Jesmyn Ward: „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“.
Aus dem Englischen von Ulrike Becker.
Verlag Antje Kunstmann, 299 Seiten, 22,– Euro.