Fremde Heimat

Eine der wichtigsten Fotojournalistinnen des 20. Jahr­hunderts ist anlässlich des 3. Europäischen Monats der ­Fotografie im Ephraim-Palais zu sehen: Fotografien­ von Gisèle Freund aus der Zeit ihrer Berlin-Besuche.

Nach Flucht und Emigration wollte die große Fotografin Gisèle Freund nie wieder in ihre Geburtsstadt Berlin zurückkehren. Doch 1957 gab sie diesen Vorsatz auf: „Ich mußte Schluß machen mit diesem wilden Haß, der in mir alle Deutschen verurteilte.“ Und es entstanden ihre ersten Fotografien von der zerstörten Stadt in Ost und West. Nach dem Mauerbau war sie ein zweites Mal in der Stadt. So umfasst die Ausstellung „Gisèle Freund – Wiedersehen mit Berlin 1957-1962“ vor allem Reportagefotografien aus dieser Zeit, die neben den Zerstörungen auch den baulichen Neubeginn im geteilten Berlin dokumentieren.

Gisèle Freund, 1908 als Gisela Freund in Berlin-Schöneberg geboren, bekommt von ihrem Vater, dem jüdi­schen Industriellen und Kunstsammler Julius Freund, zum Abitur eine Leica geschenkt. Sie studiert zwar anschließend in Frankfurt Soziologie, doch die Fotografie ist ihre eigentliche große Leidenschaft. 1933 muss sie nach Paris emigrieren, um nicht verhaftet zu werden, setzt ihre Studien an der Sorbonne fort und arbeitet bereits ­fotojournalistisch für die Zeitschrift „Life“. Und sie findet Zugang zu den literarischen Zirkeln um Paul Celan, James Joyce und André Malraux. Aus Gisela wird Gisèle. Mit einer Porträt­serie bedeutender Schriftsteller, die sie in Paris und London fotografierte, legt sie den Grundstein für ihre Karrie­­re. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen muss sie zunächst Paris verlassen und flieht schließlich 1942 nach Argentinien. Ihr Vater, zu dessen Freunden Künstler wie Max Liebermann, Max Slevogt und Hans Balu­schek gehören, kommt 1941 in London bei einem deutschen Luftangriff ums Leben. Nach dem Krieg kehrt Gi­sèle Freund 1953 nach Paris zurück und arbeitet weiter bis ins hohe Alter. Sie gilt heute als eine der wichtigsten ­Fotojournalistinnen des 20. Jahrhunderts und als Künstlerin, die durch ihre bewegte Biografie beeindruckt.

Als sie wieder Berlin besucht, die ihr fremd gewordene Heimat, hält sie ihre Kamera auf die Wunden der Stadt in Ost und West, fotografiert den Potsdamer Platz und den Marx-Engels-Platz, aber auch die neuen Bauten im Hansaviertel oder in der Stalinallee – und sie dokumentiert den damaligen Alltag der Berliner. Die Gemeinschaftsausstellung im Ephraim-Palais umfasst 36 Aufnahmen aus dieser Zeit. Neben Fotografien von Zeitgenossen –Arbeiten der Berliner Fotografen Harry Croner und Albert Kolbe aus den Sammlungen des Stadtmuseums sowie von Gert Schütz und Bert Sass aus dem Landesarchiv –, die zusammen mit ausgewählten Museums­stücken, Plakaten, Filmen und Dokumenten an jene Zeit erinnern sollen und dazu beitragen, den damaligen Lebensverhältnissen und dem Zeitgeist näher zu kommen.

Reinhard Wahren

 

 

Ausstellung

Gisèle Freund.
Wiedersehen­ mit Berlin 1957-1962

Bis 8. Februar 2009

Ephraim-Palais
Stadtmuseum Berlin
Poststraße 16
10178 Berlin

37 - Winter 2008