Mit den Daten von 182 Zentimeter Körperhöhe und 68 Kilo Gewicht ist Heike Drechsler im olympischen Wegweiser für die Sommerspiele 1992 in Barcelona notiert. Diese Zahlen stimmen heute noch. „Ich bin der Bewegungstyp, sonst fühle ich mich nicht wohl“, versichert die 53-Jährige, keinen inneren Schweinehund überwinden zu müssen. Mit ihrem Buch „Mach dich fit!“ macht sie auf herrschenden Bewegungsmangel aufmerksam und zeigt alltagstaugliche Übungen für eine besseren Kondition.
„Vor 30 Jahren hätte ich mir nie träumen lassen, ein solches Buch zu schreiben. Wahrscheinlich hätte ich das sogar für sinnlos gehalten“, sagt sie. „Aber die Gesellschaft ist heute eine andere geworden. Das erlebe ich nicht nur auf der Straße, sondern ganz oft in meinem beruflichen Alltag.“ Seit 23 Jahren ist Heike Drechsler Mitarbeiterin bei einer großen Krankenkasse. Sie ist in ganz Deutschland zwischen Flensburg und Oberstdorf im Einsatz für betriebliches Gesundheitsmanagement.
Ihren Sinneswandel der vergangenen 30 Jahre erklärt die Ex-Weitspringerin mit einem Blick auf die eigene Kindheit. „Ich kann mich gut erinnern, dass wir nur draußen herumgetobt haben. Das war auch vor meiner Zeit in der Sportschule Bewegung im natürlichsten Sinn. Das hat sich leider völlig anders entwickelt. Heute leben vor allem die Kinder oft in einer virtuellen Welt und verbringen viel zu viel Zeit vor Bildschirmen.“ Wenn dann noch der Griff in die neben dem Computer stehende Chipstüte und zur Colaflasche integriert ist, bleibt die Übergewichtigkeit vieler Mädchen und Jungen als Resultat.
In jedem Jahr fährt die gebürtige Thüringerin zu Schulsportfesten in ihre Heimatstadt Gera. Da stellt die Olympiasiegerin fest, dass die Kleinen zwar willig und mit Eifer bei der Sache sind, oft aber ängstlich auftreten. Die Kinder seien heute meistens überbehütet und die Eltern schwanken zwischen Extremen. „Die gehen dann mit schlechtem Beispiel voran: Zweimal in der Woche Training, meinetwegen ins Fitnessstudio, aber sonst sitzen und fünf Tage wenig bewegen“, schüttelt sie den Kopf. Es sei aber gerade wichtig, sich täglich zu bewegen, sogar mehrmals am Tag. Das hat sie zwischen die Buchdeckel geschrieben mit anschaulich illustrierten Übungen, die jeder ohne großen Aufwand praktisch überall ausführen kann.
Mit gutem Beispiel voranzugehen fällt der Exweltmeisterin leicht. Zehn bis 15 Kilometer laufen – kein Problem. Das sollte man aber nicht übertreiben und das Tempo so gestalten, dass man sich trotzdem dabei wohlfühlt. Selbsteinschätzung ist wichtig! Deswegen ist die einst weltbeste Weitspringerin und Sprinterin auch noch nie einen Marathon gelaufen. „Ich glaube schon, dass ich das könnte. Aber am nächsten Tag würden mir die Knochen wehtun und ich könnte nicht laufen. Das würde mir dann fehlen“, begründet sie. Doch ihr Körper fordere einfach die tägliche Bewegung. „Ich muss mich nicht zwingen. Im Gegenteil: Ich genieße das.“
Deshalb ist das Buch auch kein Auftragswerk ihres Arbeitgebers, wie es den Anschein haben könnte. „Nein, obwohl es natürlich in meine Tätigkeit sehr gut reinpasst. Aber das, was ich da geschrieben habe, das ist meine ganz ehrliche Meinung. Ich habe da auch meine ganze Erfahrung mit eingebracht, dass viel Bewegung, viel frische Luft und der Aufenthalt in der Natur einfach Spaß machen.“ Deshalb liebt sie auch mehr die Aktivität in ihrem beruflichen Alltag, als wenn sie Referentin bei Seminaren oder Motivationskursen ist. „Wenn ich zu einem Frauenlauf, einem Workshop oder Ähnlichem eingeladen bin, dann gebe ich nicht nur den Startschuss. Dann macht es mir am meisten Spaß, wenn ich mitrennen kann.“ Und den Teilnehmern sicher auch, denn Frau Drechsler kehrt dann nicht die Olympiasiegerin heraus und rennt vornweg, sondern bewegt sich in ihrem Tempo mitten im Pulk. Wenn das vielen jüngeren Teilnehmern zu schnell ist, kommen die vielleicht ins Grübeln, warum ihnen eine über 50-Jährige so vorausrennt. Und schon ist wieder dem Zweck gedient, den sie mit dem Buch erreichen will.
Was man mit Willen schaffen kann, hat sich Heike Drechsler in den Anfangsjahren ihrer Sportler-Karriere selbst bewiesen. Deshalb ist von den 26 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften auch die ihre liebste, die sie sensationell bei den ersten Welttitelkämpfen 1983 in Helsinki gewann. Die Rumänin Anisoara Cusmir reiste damals als haushohe Favoritin an, sprang in Wettbewerben um die 25 Zentimeter weiter als die Schülerin vom SC Motor Jena. „Ich habe das Bandmaß ausgelegt, anfangs ehrfürchtig auf so einen Unterschied gestarrt, aber später gedacht: Warum ich eigentlich nicht?“ Und das half. Die Rumänin sprang mit 7,15 m zwar eine Weite, die Heike Drechsler zuvor auch nicht erreicht hatte. Doch die Deutsche steigerte sich unter dem Beifall der Finnen auf 7,27 m und holte die Goldmedaille.
Diesen Triumph bezeichnet die seit zwei Jahren in Berlin lebende Thüringerin heute als wegweisend. „Der gab mir das Selbstbewusstsein: Ich kann die ganz Großen besiegen.“ Und der Titel schaffte noch mehr. Heike Drechsler die am höchsten dekorierte Weitspringerin aller Zeiten. Was sie besonders freut: Man kann ihre Leistungen nicht mit dem Wink abwerten, sie seien in der drillartigen Retorte des DDR-Leistungssports hochgezüchtet worden. Denn lange nach Helsinki wurde sie zehn Jahre später erneut Weltmeisterin und bei ihrem zweiten Olympiasieg 2000 in Sydney war der Osten sportlich längst ins vereinte Deutschland integriert.
Ein großer Vorteil für Heike Drechsler war damals schon ihre Vielseitigkeit. Obwohl sie der Leichtathletik als beste Weitspringerin aller Zeiten in Erinnerung ist, gewann sie zahlreiche internationale Medaillen im Sprint und stellte Bestleistungen als Siebenkämpferin auf. Diesen Bewegungsdrang pur lebt sie heute fast nur noch privat aus. Auf der großen Bühne der Leichtathletik ist die 53-Jährige jedoch weiter präsent, allerdings völlig anders als die Ex-Stars und heutigen Nadelstreifen-Funktionäre wie der Brite Sebastian Coe oder der Ukrainer Sergej Bubka. Im vergangenen Jahr machte die Olympiasiegerin ihren Schein als Kampfrichterin und harkt den Athleten heute den Sand in der Grube gerade. „Auch hier gibt es eine richtige Hierarchie, da muss ich mich erst hochdienen“, hat sie gelernt. „Aber ich bin hautnah dabei. Das ist mir lieber, als im VIP-Bereich zu sitzen mit den Händen im Schoß.“
Hans-Christian Moritz