Moloch Großstadt

Anlässlich seines 70. Todesjahres zeigt das Brücke-Museum eine Ausstellung, die dem Schaffen Ernst Ludwig Kirchners in seiner Berliner Zeit gewidmet ist.

Im Oktober 1911 kommt Kirchner nach Berlin. Seine beiden Künstlerkollegen Max Pechstein und Otto ­Müller sind bereits von Dresden in die Metropole übergesiedelt. Zwei Monate später folgen auch Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff. Die Brücke-Maler sind wieder vereint.
Während der Akt ihr herausragendes Bildmotiv der Dresdener Jahre war, reflektieren die Malerfreunde ihre neue Umgebung in völlig unterschiedlicher Weise. Berlin-Motive sind in den Werken Pechsteins, Müllers oder Schmidt-Rottluffs weniger bestimmend, dagegen ist Kirchner geradezu fasziniert vom großstädtischen Leben. Die Straßen und Plätze im hektischen Berlin der wilhelminischen Ära sind für ihn eine Bühne, auf der die Menschen am Vorabend des Ersten Weltkrieges nur noch wie Marionetten agieren. Angetrieben von einem Gefühl der Verlorenheit in der Großstadt, von Vorahnungen des drohenden Unheils, aber auch von der Beschwörung des Krieges als erlösender Akt aus der allgemeinen Lethargie zu Beginn des 20. Jahrhundert. In dieser Situation reagiert Kirchner besonders intensiv auf den „Moloch“ Großstadt, dessen Herausforderungen und Verführungen ihn wie kaum zuvor inspirieren und künstlerisch beeinflussen. Im Spannungsfeld von brodelnder Metropole mit den Tanzlokalen, Cabarets, Theatern und nächtlichen Amüsements, Atelier, Erotik und Exotik entstehen 1913 die ersten Bilder mit Straßenmotiven und Prostituierten. „Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg...“ Von diesem Lebensgefühl eingenommen, malt er die berühmten „Straßenszenen“, die zu seinen wichtigsten Werken überhaupt gehören. Neben seinen Brücke-Kollegen ist er vor allem der dichterischen Avantgarde der damaligen Zeit sehr nahe. Er trifft beispielsweise auf Herwarth Walden, den Herausgeber der Zeitschrift „Der Sturm“, die die wichtigste Plattform für junge, expressionistische Literatur ist, und er findet die Freundschaft zu Alfred Döblin. Ohne deren Einflüsse wäre Kirchners legendärer „Berliner Stil“ nicht denkbar.

Die Ausstellung im Brücke-Museum beschränkt sich auf Kirchners Ber­liner Jahre zwischen 1911 und 1915, in denen er den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens erreicht. Auch Werke, die auf der Insel Fehmarn entstanden, wo er in jener Zeit die Sommermonate verbringt, fehlen nicht. Dorthin flüchtet er, wenn die Großstadt den hochsensiblen Künstler zu erdrücken droht. Das Leben in der Metropole geht allerdings auch mit einer starken Individualisierung jedes einzelnen Brücke-Künstlers einher, was letztlich 1913 zur Auflösung der Künstlergemeinschaft führt. Im Juli 1915 meldet sich Kirchner zum Militärdienst nach Halle, kurze Zeit später folgt sein seelischer Zusammenbruch. Zurück in Berlin illustriert er noch Adelbert von Chamissos ­„Peter Schlemihls wundersame Geschichte“, bevor er endgültig Berlin verlässt. „Kirchner hat sowohl das Was wie das Wie seiner Malerei in Berlin in jeder Weise entwickelt und vertieft. Der Krieg und seine im Militärdienst ausbrechende schwere Krank­heit brachen diese Arbeit in der vollsten Entwicklung jäh ab und verschlugen den Künstler zu seiner Heilung nach der Schweiz“, so reflektiert er später in seinem Davoser Tagebuch.

Reinhard Wahren

 

 

Ausstellung

Ernst Ludwig Kirchner in Berlin

13.12.2008 bis 15.3.2009

Brücke-Museum
Bussardsteig 9
14195 Berlin

Geöffnet täglich 11-17 Uhr,
dienstags geschlossen

37 - Winter 2008