Von Binsen bis Bambus

Sessel, Stühle, Betten, Lampen und Körbe: Geflechtmöbel aus Naturmaterialien erobern mit ihrem Charme Haus und Hof. Wie leicht und elegant können Rattan-Möbel sein. Geradezu geheimnisvoll wirkt ein schwarzer Korbsessel vor einer nachtblauen Wand. Schöne Kissen und eine bunte Decke bringen das Ensemble zum Leuchten. Oder schmale weiße Korbstühle um einen Tisch in einem lichten Ambiente!

Naturfarbene Rattanmöbel wirken lässig und faszinieren mit ihrer Struktur. Ein schönes Beispiel für Komfort und Schlichtheit ist der „Nest Lounge Chair“ des Kopenhagener Designerduos Johannes Foersom und Peter Hiort Lorenzen. Und der Schaukelstuhl „Orinoco“, wiederum von Bloomingville, mit einer Rattansitzschale, die auf flamingodünnen Kufen zu schweben scheint, ist kaum an Eleganz zu überbieten. Wogegen der „Fox Chair“ mit seinen expressiv ausgestellten Hinterbeinen punktet. Der Sessel ist eine Neuauflage von Viggo Boesens Entwurf aus den Dreißigern und zeigt einen Schwung, als hätte jemand mit ausladender Geste eine Linie in die Luft gemalt.

Haus und Hof

Sessel, Stühle, Betten, Lampen und Körbe – Geflechtmöbel aus Naturmaterialien erobern mit ihrem Charme Terrassen und Balkone. Sie zeigen Stilgefühl im Wohnzimmer, wo sie auf Nomadenteppichen ebenso wie auf Dielen und Natursteinen eine gute Figur machen. Sie gesellen sich als Leichtgewichte zu Beton und Eiche in den neuen smarten Küchen und strömen in Schlafzimmern Sixties-Flair und Weltläufigkeit aus. Ihr Shabby-Chic-Charme als Relikt aus Omas Veranda ist vorbei oder wird ganz bewusst inszeniert. Und im Wettstreit mit der Outdoorinnovation Polyrattan, ein Material, mit dem in den letzten Jahren die Oberflächen wetterfest gemacht worden sind, geht es mehr denn je um Form und Geschichte und die Rückkehr der Sinnlichkeit. Polyrattan ist ob seiner Regen- und UV-Widerständigkeit aus dem Sommer-, Luft- und Strandleben nicht mehr wegzudenken. Sein Zuwendungs-Schicksal aber ähnelt der Nylon-Euphorie: Trotz der neuen Farben und Produkte kam die Sehnsucht nach Leinen, Seide und Wolle schneller als gedacht. Naturmaterial sticht Chemie oder behauptet zumindest selbstbewusst seinen Platz als Unikat oder trendiger Solist. Rohr von kontrollierten Plantagen ist die Voraussetzung für die charmante Rückkehr eleganter Flechtmöbel. „Die schlanken Stämme und Triebe mehrerer Arten der Palmengattung Calamus werden in allen Wäldern des Indischen Archipels, besonders auf Borneo, Sumatra und der Malaiischen Halbinsel gewonnen und von Oberhaut, Blättern und Stacheln befreit, in den Handel gebracht.“ steht in Meyers Konversationslexikon von 1907. China und Japan galten als Hauptabnehmer. In Spanien steht seit einen halben Jahrhundert immerhin als einer der großen Rattanverarbeiter die Fabrik Expornim. Eine Stunde von Valencia entfernt, werden darin seit fünfundfünfzig Jahren Flechtmöbel hergestellt. Auch das skulpturale Sofa auf schwarzen Metallbeinen von Benedetta Tagliabue wurde dort gefertigt.

Geflochtene Möbel haben eine lange Geschichte. Vermutlich waren Schilf und Binsen die ersten Materialien, aus denen Sitzmöbel gewickelt wurden. Museale Abbildungen verweisen auf eine zumindest fünftausendjährige Vergangenheit. Deutlich jüngeren Datums sind Fotografien, die zum Beispiel Einblick in das Interieur der Pariser Grande Dame der Literatur- und Kunstszene, Gertrude Stein, zu Beginn des 20. Jahrhunderts geben. Ein ausladender Rattansessel ziert den Salon in der Rue de Fleurus. Und im sympathischen Domizil des Oscar-Preisträgers und prominenten Regisseurs Steven Spielberg auf Long Island, er hat den Einblick in seine Privaträume einem bekannten Kunstbuchverlag gewährt, ergänzen besonders schön gearbeitete „Wicker-Chairs“ die Wohnlandschaft. Sich hineinzuträumen in eine kreative Atmosphäre, in eine Behaglichkeit, die Disput und Schaffen einschließt, ermöglicht zum Beispiel der Schaukelstuhl „Monet“ in Schwarz oder eben „Antique“, der bei der dänischen Firma Sika Design zu finden ist.

Ein Blick zurück lohnt sich

Etwa auf Richard Riemerschmids Korbstuhl, der ob seiner Strenge zu einer aufrechten Körperhaltung einlädt oder Egon Eiermanns großen Rattantrichter, in den man sich am besten hineinfallen lässt. Auch Mies van der Rohes Chromfreischwinger gibt es in einer Geflechtvariante. Diese Sessel erzählen eine andere Geschichte als etwa ein opulenter, mit sagenhaftem Aufwand handgefertigter „Peacock“-Fauteuil, ein „Pfauensessel“ mit all seiner dekorativen Pracht und Verspieltheit. Lineare Strukturen, Gitterflechtungen, luftige und überaus verdichtete Wickeltechniken, derbe und feine Oberflächen, ausladende Thronformen oder puristisches Design, Blüten- und Sonnenformen – vor allem Sessel und Stühle finden sich in verwirrender Vielfalt. Die Beliebtheit von Rattan- und Bambusmöbeln ist allein schon an den Postings auf der Internetplattform Pinterest abzulesen. Und in der Tat lässt sich hier von dänischen Midcentury-Vintagemöbeln, den Trendsettern mit zumeist kreisrunden oder ovalen Sitzkörben auf staksigen Metallbeinen, bis zu Tom Dixons artifiziellem Banana-Chair aus den Siebzigern so ziemlich alles finden, was das Herz höher schlagen lässt. Man könnte meinen, ohne Rattan, Binsen und Bambus kein Leben. Ein tolles Exemplar ist etwa der strahlenförmig gefertigte Korbsessel aus den Sechzigern von Franco Albini und Janine Abraham.

Nicht nur sitzen, auch liegen oder gar schaukeln!

Der Designer Jan Armgardt hat für die Firma Katz eine musikalische Linie entworfen. Seine Rattan-Liege „Raa“, erinnert mit ihrem Namen an den ägyptischen Sonnengott. Dank zweier Räder kann sie mühelos dem Lauf der Sonne nach bewegt werden. Als Stars des Sommers gelten Hängestühle, aber auch schlichte Bänke. „Entspannt abhängen“, die Dänin Nanna Ditzel hat mit ihrem „Hanging Egg“ aus dem Jahr 1959 Designgeschichte geschrieben.

Anita Wünschmann

 

75 – Sommer 2018