Die Flucht vor wilden Tieren. Das Ausreißen vor einem übermächtigen Gegner. Oder auch die umgekehrte Variante: Das Rennen hinter einem verletzten Tier bei der Jagd. Das schnelle Laufen ist dem Menschen angeboren, seit er den aufrechten Gang entwickelte. Wann sich aus der Fortbewegung sportlicher Wettkampf entwickelte, ist nicht sicher. Es gibt darüber Geschichten, Sagen, Spekulationen. Klar ist soviel, dass das Wettlaufen die älteste Disziplin ist, die heute noch als Sport betrieben wird.
Auch das Springen in die Weite oder die Höhe, sogar mit Hilfsmitteln wie einem Stab – es mussten schließlich in einer Natur ohne Straßen zahlreiche Hindernisse überwunden werden –, das Werfen eines Speers oder einer Kugel sind wohl zurückzuführen auf urzeitliche Jagdszenen. Dem Diskuswerfen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. In der Literatur gilt es als urzeitlichste Disziplin der Körperertüchtigung.
Dabei berufen sich die Historiker auf Homer. In dem ihm zugeschriebenen Werk, der Ilias, beschreibt Homer das als „Diskos“ übersetzte Gerät als linsenförmige, runde Scheibe aus Stein. Mit religiösen Zeichen versehen diente es als Opfergabe, mit einem scharf geschliffenen Rand jedoch als Waffe. Und der Umgang mit dieser Waffe musste geübt werden, um einem möglichen Kontrahenten in Kraft, Geschicklichkeit und Gewandtheit überlegen zu sein. So besagt die griechische Mythologie, dass Perseus seinen Großvater Akrisios beim Üben mit einer solchen Wurfscheibe versehentlich erschlagen haben soll.
Weil in der Antike große und kräftige Männer als Sinnbild von Helden galten, waren die Diskuswerfer bei den von Homer beschriebenen Sportspielen die am meisten bestaunten Helden. Allerdings traten sie nicht in heute üblicher Wettkampfform an, sondern bestritten ihre Würfe im Rahmen eines Mehrkampfes. So ist der erste Diskuswurf bei den antiken Olympischen Spielen bereits im Jahr 708 vor unserer Zeitrechnung nachweisbar.
Regeln im heutigen Sinne gab es zwar, aber sie sind nach jetziger Sicht recht verschwommen. Das gilt auch für die Wiederentdeckung der Disziplin vor mehr als 100 Jahren. Weil der Geist des Mittelalters einer Körperertüchtigung nicht günstig gesonnen war, kam es erst Ende des 19. Jahrhunderts zur Wiederbelebung der antiken Sportspiele.
Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit setzten die griechischen Gastgeber 1896 große Hoffnung auf einen Sieg im Diskuswerfen. Doch der Amerikaner Robert Garrett schnappte den lautstark angefeuerten Panagiotis Paraskevopoulos und Sotirios Versis in Athen mit der Weite von 29,15 Metern den Sieg weg. Nicht die Goldmedaille, die wurde erst bei späteren Spielen verliehen. Übrigens würde die Leistung des Amerikaners heute keinen Eingang in Rekordlisten finden, denn die Werfer schleuderten ihre Scheibe von einem circa 70 Zentimeter hohen Podest in das nach antikem Vorbild errichtete schmale Stadion.
In den folgenden Jahren bis 1968 entwickelte sich die Disziplin zu einer Domäne der Amerikaner, die nur fünfmal bei Olympia nicht den Gewinner stellten und in Person von Al Oerter gleich viermal hintereinander triumphierten. Ein Grieche übrigens hat nie gewonnen und seit mehr als 100 Jahren stand auch keiner auf dem Podest. Dafür dominieren seit dem Triumph des vorerst letzten Amerikaners (Mac Wilkens/1976) ausschließlich Europäer in der ursprünglichsten aller olympischen Wurfdisziplinen, darunter gleich fünf Deutsche. Bei den vergangenen beiden Spielen kam es zum Kuriosum, dass 2012 in London der in Cottbus geborene Weltmeister Robert Harting die Goldmedaille gewann, vier Jahre später in Rio de Janeiro dessen jüngerer Bruder Christoph.
Diesem Duell innerhalb der Familie wird die größte Aufmerksamkeit zuteil, wenn am 8. August die Recken der Neuzeit zum Finale der Europameisterschaft ins Berliner Olympiastadion ziehen – vorausgesetzt, beide überstehen die am Tag zuvor anstehende Qualifikation für den Endkampf (die Favorit Robert Harting bei Olympia in Brasilien verpatzte).
Robert Harting werden dabei die Herzen im altehrwürdigen Oval zufliegen, denn der Dominator des vergangenen Jahrzehnts bestreitet in seinem „Wohnzimmer“, wie er die Betonschüssel seit seinem Weltmeisterschafts-Triumph 2009 an gleicher Stelle nennt, seine letzte internationale Meisterschaft. Anschließend gönnt der Zwei-Meter-Mann seinem geschundenen Körper Ruhe, will endlich seine zahllosen Verletzungen auskurieren und sich mehr seiner Frau Julia widmen. Bevor der dreimalige Weltmeister und seine elf Kontrahenten zum letzten Mal die zwei Kilogramm schwere Scheibe mit einem Radius von elf Zentimetern auf den grünen Rasen schleudern, können sich die Zuschauer im weiten Rund des Berliner Olympiastadions überzeugen, dass bei allen Regeländerungen eines beim Diskuswerfen noch genauso ist wie bei den antiken Sportspielen vor mehr als 2000 Jahren: Die Körper der Athleten weisen kein Gramm Fett zu viel auf und eignen sich perfekt als Modell für Statuen, wie sie aus der antiken Zeit bekannt sind.
Hans-Christian Moritz