Die Zimmerstraße ist eine ruhige Straße. In ihr kann man die Stille unweit des Tourismusrummels genießen, draußen in kleinen Cafés einen Cappuccino trinken und dabei in die Sonne blinzeln. An einem Ende der Straße steht das Axel-Springer-Haus und gegenüber befindet sich die riesige Baustelle für das neue Medienhaus. Am anderen Ende schwebt der Fesselballon „Die Welt“ in die Luft. Seit September erinnern vierzehn Kilo schwere Gedenktafeln auf den Gehwegen an den Originalorten an zwei der wohl spektakulärsten Fluchten aus Ost- nach Westberlin.
Es war die Hoffnung auf ein freies Leben, die alle jene miteinander verbindet, die eine so riskante Flucht gewagt haben. Als es Rudolf Müller 1962 gelang, seine Frau, die Schwägerin und seine zwei Kinder endlich in den Westteil Berlins zu holen und er aus dem Fluchttunnel in der Zimmerstraße stieg, verspürte er keine Freude, nur Leere. Noch heute weint er, sagt er auf der Pressekonferenz anlässlich der Einweihung der Gedenktafel. Durch unglückliche Umstände war im Gewirr der Flucht der junge NVA-Grenzsoldat Reinhold Huhn durch ihn ums Leben gekommen. Rudolf Müller wurde dafür sehr viel später, 1999, wegen Totschlags mit einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der Bundesgerichtshof korrigierte das Urteil ein Jahr später auf Mord, ohne das Strafmaß zu verändern. Der Fall hinterlässt bis heute viele Fragen.
Die Fluchtgeschichte der Familie Müller und die der Familie Höer haben die Autoren Dietmar Arnold und Rudolf Müller sowie Bodo Müller und Siegrun Scheiter in zwei dokumentarischen Büchern aufgearbeitet. Sie beschreiben die Schicksale von Menschen, die ihre Heimat zurücklassen, um ihn Freiheit zu leben.
Der Titel „Kein Licht am Ende des Tunnels“ könnte passender nicht sein Bis heute hat Rudolf Müller Angst. Bis heute hat er Angst vor der Stasi, die ihn nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 für zwei Jahre ins Gefängnis steckte. Er fürchtet sich, wenn er allein auf der Autobahn unterwegs ist, vor großen, verdächtig wirkenden Fahrzeugen.
Das Buch handelt vom Freiheitsstreben und den bitteren Folgen für einen Menschen. „Die Politik muss aufpassen“, antwortet Rudolf Müller auf die Frage, wie er das derzeitige politische Geschehen sieht. „Es passieren viele Fehler. Viel zu viele. Man muss Flüchtlingen auf Augenhöhe begegnen und ihnen helfen. Und auch dort, wo sie herkommen. Das System macht, das so etwas passiert.“
Die Flucht der Familie Höer, die ebenfalls in der Zimmerstraße endete, war eine freche Flucht. Ausgerechnet am Checkpoint Charlie, wo der Kalte Krieg sichtbar ausgefochten wurde und niemand mehr mit solch einem Unterfangen rechnete, gelang es den Brüdern Manfred und Peter Höer mit ihrem Freund Peter Schöpf, 1972 in den Westen zu fliehen, wo die Liebe wartete. Die Geschichte ist kaum bekannt, da damals mit der West-Berliner Polizei Stillschweigen vereinbart worden war. Erst im Jahr 2016 meldeten sich die Tunnelbauer bei Autor und Journalist Bodo Müller. Sie baten ihn, ihre Geschichte aufzuschreiben. Jetzt lässt die Gedenktafel am Tunnelausstieg auch über diese Geschichte stolpern.
Seit 2009 errichtet der Berliner Unterwelten e.V. Gedenktafeln. „Damit möchten wir immer wieder den Wert der Freiheit bewusst machen. Und die tiefe Dankbarkeit für ein Leben in Freiheit vermitteln“, so Dietmar Arnold, Vorstandsvorsitzender des Vereins, der 1997 von elf Unterweltenfans rund um den Stadt- und Regionalplaner Dietmar Arnold gegründet wurde. Ihr Ziel – und der Vereinszweck – war und ist es, den Berliner Untergrund nicht nur zu erforschen und zu dokumentieren, sondern Ergebnisse und Orte genau da, wo die Geschichte passiert ist, der Öffentlichkeit zugänglich und sie für Generationen unvergessen zu machen.
Barbara Sommerer
Information
Gedenktafeln: Zimmerstraße, Nähe Ecke Jerusalemer Straße; Zimmerstraße 92/93, gegenüberliegende Straßenseite
Führungen:
www.berliner-unterwelten.de
Bücher:
Kein Licht am Ende des Tunnels, Dietmar Arnold / Rudolf Müller; Der Tunnel am Checkpoint Charlie, Bodo Müller / Siegrun Scheiter beide bei Edition Berliner Unterwelten im Ch. Links Verlag