Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze. Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: Zuckerfrei am Kollwitzplatz
Auf dem Sockel des Käthe-Kollwitz-Denkmals in Prenzlauer Berg sitzen zwei Jungs und tauschen Pokemon-Bilder. Ein älterer Mann kommt dazu, er scheint sich für die Geschäfte der beiden zu interessieren und spricht sie an. Der eine der Jungs erschrickt heftig, sagt zitternd, er habe ständig Angst, entführt zu werden.
Der Zeichner OL hält seit 13 Jahren das Geschehen hier in seinem Cartoon „Die Mütter vom Kollwitzplatz“ fest. Er ist so etwas wie der Chronist des Platzes, aber auf Kinderraub ist selbst er noch nicht gekommen. „Wenn dir ein fremder Mann Bonbons anbietet“, ließ er allerdings mal eine Mutter ihr Kind warnen, „fragst du, ob sie zuckerfrei sind.“ Ansonsten geht’s in den Sittengemälden von OL, der einige Jahre nicht weit weg vom Platz wohnte, um grauhaarige Mütter und Väter, die den Platz bevölkern, um Windeln, Kinderwagen, Biokost. „Mein Vater ist Lehrer“, lässt er einen Jungen sagen. Und der andere antwortet: „Meiner ist Bio-Lehrer.“ OL ist weggezogen vom Kollwitzplatz, es war nicht mehr seine Gegend.
Käthe Kollwitz thront seit 1961 wie eine Urmutter in der Mitte des Platzes, der seit 1949 ihren Namen trägt. Der Bildhauer Gustav Seitz hat die Plastik nach der Vorlage eines Selbstporträts der Malerin entworfen, die zwischen 1891 und 1943 mit ihrem Mann, einem Arzt, der sich für die Armen der Gegend engagierte, hier lebte. Ihr Wohnhaus wurde im Krieg als eines der wenigen am Platz zerstört.
Das Gelände rund um den Platz wurde in der Gründerzeit bis 1875 als Wohngebiet erschlossen. Kurz nach dem Deutsch-Französischen-Krieg erhielt er in Erinnerung an eine gewonnene Schlacht den Namen Wörther Platz. Biokost gab’s damals auch schon, auch wenn sie nicht so hieß, nur Spielen war auf dem Platz nicht erlaubt. 1949 wurde der Kollwitzplatz nach Entwürfen des Gartenarchitekten Reinhold Lingner umgestaltet.
Rundherum gab es in den zurückliegenden Jahrzehnten einen Bevölkerungsaustausch in mehreren Wellen. In den Achtzigerjahren zogen Familien aus den maroden Altbauhäusern mit Kohleöfen und Klos auf halber Treppe weg in moderne Neubauwohnungen, die in Marzahn und Hellersdorf entstanden. Künstler und Lebenskünstler blieben oder kamen, Literaten und Musiker, und bestimmten die Szene. Kurz vor der Wende wurden noch ein paar Straßenzüge saniert. Am 3. Oktober 1990 riefen Einheitskritiker um Mitternacht am Kollwitzplatz die „Autonome Republik Utopia“ aus. Sie überlebte den Morgen nicht.
Nach der Wende entdeckten Kreative die Gegend, darunter viele Süddeutsche und jede Menge Schwaben, angezogen vom Flair rund um den Platz und den damals noch niedrigen Mieten. Ein Jahrzehnt später wurden die von besser betuchten Landsleuten verdrängt, die Wohnungen und ganze Häuser kauften und luxussanierten. Das Restaurant „Gugelhupf“ machte auf, in dem Bill Clinton beim Berlin-Besuch speiste. Treffs der Ost-Boheme wie das „Lampion“ mussten schließen. Das Areal rund um den Kollwitzplatz wurde zu einem der teuersten Wohnquartiere der Stadt; zwei kleinere Zimmer kosten schon mal eine Viertelmillion oder tausend Euro Miete. Tendenz steigend. Im vorigen Jahr schloss das „1900“, zu DDR-Zeiten das beste Restaurant am Platz. Die Leute wohnen hier gerne, aber gehen lieber nach Kreuzberg oder Mitte ins Restaurant. Abends ist es ziemlich duster. Vor ein paar Monaten brannten eines Nachts 14 Autos.
Als der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, Ureinwohner am Platz, vor ein paar Jahren ärgerlich monierte, hier hieße es beim Bäcker nicht Wecken, sondern Schrippen, man sei schließlich in Berlin und nicht in einer schwäbischen Kleinstadt mit Kehrwoche, flogen Spätzle und trafen Käthe Kollwitz, Kopf und Schoß waren mit der schwäbischen Leibspeise bedeckt. Eine Initiative „Freies Schwabylon“ klagte über Diskriminierung und bekannte sich zu dem Nudelschlag und forderte einen schwäbischen Bezirk in Prenzlauer Berg. Die Kollwitz hat auch das überlebt und zum Schwabenstädle ist es nicht gekommen.
Philipp Strube betreibt seit 2000 den Wochenmarkt am Kollwitzplatz und kann über die Bezeichnung „Schwabenmarkt“ nur lächeln. 60 Prozent der Marktbesucher, schätzt er, sind Anwohner, und von denen lebten schon 20 Prozent vor der Wende hier. Die etwa 80 Händler kommen alle aus Berlin und Brandenburg. Natürlich gibt es viel Bio und Öko, aber komischerweise nichts Schwäbisches. Auf dem Markt frisch gebackener Hefekuchen, zwei Markt fünfzig das große „Familienstück“, türkische Spezialitäten und Falafel, die ein palästinensischer Händler lautstark unter die Leute bringt, sind an diesem Sonntagvormittag die Renner. Man wandelt und schwatzt zwischen den Ständen deutsch, englisch, französisch, trinkt Prosecco oder Latte.
Auf dem Spielplatz lässt ein Vater vom Kollwitzplatz mit einem Coffee to go in der Hand seinen Nachwuchs schaukeln. Ein Mädchen hat sich auf Käthes Bronzeschoß gesetzt und liest. Am Rande des Marktes spielt ein Junge auf seiner Gitarre konzertant „Hit the Road Jack“. Er ist erst elf Jahre alt und kann noch eine Menge mehr. Das gefällt den Leuten, in seiner Gitarrentasche klimpern die Münzen.
Thomas Leinkauf