Vor 100 Jahren nahm der deutsch-jüdische Architekt Erich Mendelsohn in Berlin seine Arbeit auf und begann gleich mit seinen kühnsten Entwürfen. Sein Beitrag für die Moderne steht hinter dem des Bauhauses nicht zurück.
Alle Welt feiert das Bauhaus, doch es gibt auch eine Moderne jenseits von Weimar und Dessau. Im Gründungsjahr des Bauhauses bearbeitet Erich Mendelsohn 1919 in seinem Büro in Berlin-Westend die ersten Aufträge. Im November 1918 hatte er sich niedergelassen, einige Monate später ging die Arbeit richtig los. Im Geiste eines umfassenden Neuanfangs nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Mendelsohn selbst an der Ost- und der Westfront gedient hatte, wirft er utopisch anmutende Skizzen aufs Papier. Der Verleger und Kunsthändler Paul Cassirer hat diese in seiner renommierten Galerie ausgestellt. Große Würfe sollten es sein. Und das wurden sie, darunter der Einsteinturm für den Potsdamer Telegrafenberg, gebaut 1920 bis 1922.
Der deutsche Astrophysiker Erwin Finlay-Freundlich, der zusammen mit Albert Einstein das Observatorium plante, war mit dem Ehepaar Mendelsohn bekannt. Erich Mendelsohn experimentierte damals mit neuartigen Gestaltungsweisen in der Architektur. Als stetiger Wermutstropfen für den Architekten standen wegen der mangelhaften Ausführung Bauschäden an der Tagesordnung.
Stahl und Stahlbeton waren als moderne Materialien gerade aufgekommen. Der junge Architekt schrieb über diese Baustoffe, sie würden, „wenn in ihrem elastischen Potential erkannt, notwendigerweise zu einer Architektur führen, die völlig verschieden ist von allem, was wir zuvor kannten“. Der Einsteinturm sorgte unter Zeitgenossen für großes Aufsehen, er war sozusagen die Visitenkarte Mendelsohns. Heute gilt der Turm als Ikone der Moderne, als Zeugnis des organischen Expressionismus.
Persönliche Beziehungen öffneten Erich Mendelsohn immer wieder die Türen zu potenziellen Auftraggebern, wie auch im Falle der ehemaligen Hutfabrik Friedrich Steinberg, Herrmann & Co., einem expressionistischen Industriebau in Luckenwalde. Nach längerer Sanierung und Rekonstruktion erstrahlt er seit 2011 wieder in gewohntem Glanz. Wie der Einsteinturm ist auch die Hutfabrik mit ihrem charakteristischen Dach in Stahlbetonbauweise errichtet. Erich Mendelsohn selbst zählte sie zu seinen gelungensten Entwürfen. Zuvor hatte er schon Siedlungshäuser für die Mitarbeiter der Luckenwalder Fabrik entworfen.
Mendelsohn war nach kurzer Zeit gut im Geschäft. Vor allem dank seiner umschwärmten Frau Luise, einer Cellistin, war er bestens vernetzt in der Berliner Gesellschaft. So lag es nahe, sich auch selbst Wohnraum zu schaffen, denn die junge Familie lebte bis dahin in einer Pension in Berlin-Westend. Am Karolingerplatz baute er für sich und einen Freund eine Doppel-hausvilla im Stil der Neuen Sachlichkeit. Eingezogen sind die Mendelsohns allerdings nie. Gleichzeitig realisierte er in Berlin-Mitte den Umbau des Verlagshauses Mosse und eine Villa an der Heerstraße für den Arzt Dr. Walter Sternefeld. Auffallend war, dass es gerade jüdische Bauherren waren, die sich der konsequent modernen Formensprache Mendelsohns öffneten. Außerhalb Berlins waren vor allem die Brüder Simon und Salman Schocken, Eigentümer eines Kaufhauskonzerns, seine wichtigsten Auftraggeber. Für die Berliner Architekturhistorikerin Ulrike Eichhorn ist es nicht sachgerecht, Erich Mendelsohn allzu vorschnell mit in die Bauhaus-Schublade zu stecken. Gerade in diesem Jubiläumsjahr sei irgendwie alles Bauhaus. Viel treffender wären Begriffe wie der des Neuen Bauens oder der Internationalen Moderne, fügt sie an.
Eine seiner größten beruflichen Herausforderungen in Berlin war zweifelsohne der WOGA-Komplex am Lehniner Platz, ein städtebaulicher Auftrag, der Freizeit- und Vergnügungseinrichtungen für ein angrenzendes Wohngebiet umfasste. Neben Wohnungen entstanden Restaurants, Theater und Tennisplätze. Dürfen letztere im Zuge der Nachverdichtung heute bebaut werden? In der jüngeren Vergangenheit war ein heftiger Streit darüber entbrannt. Das Argument der Investoren: Mendelsohn selbst habe in einem ersten Entwurf an dieser Stelle Bebauung vorgesehen. Die heutige Schaubühne hatte Erich Mendelsohn dagegen als Lichtspieltheater geplant. Er geriet in einem Brief an seine Frau geradezu ins Schwärmen, als er nach der ersten Besichtigung dessen Farbfassung und Atmosphäre beschrieb: „Die Lichtdecke ist herrlich, und ich glaube, wir bekommen das rote Mahagoni mit zarten blauen und gelben Tönen der Rangrückwand sehr streng und duftig zusammen.“
Ende der 1920er-Jahre konnte der erfolgreiche Architekt endlich auch wieder an den Bau eines eigenen Hauses denken. Am Rupenhorn in Berlin-Charlottenburg war schließlich ein geeignetes Grundstück gefunden. Die Mendelsohns waren angekommen, führten ein offenes, geselliges Haus mit Konzerten und Empfängen. Doch die Freude währte nicht lange. 1933 musste Erich Mendelsohn das Land verlassen, und Berlin verlor einen einzigartigen Architekten.
Karen Schröder
Erich Mendelsohn in Berlin,
1919 - 1933.
Edition Eichhorn.
24 Seiten, 14,8 x 21 cm,
Softcover, 32 Abbildungen, 2019