Rund um das Tacheles entsteht ein neues Stadtquartier. Die Tacheles-Brache wird bebaut. Rund um die einstige Künstlerruine soll bis 2023 ein neues gemischtes Quartier entstehen mit Luxuswohnungen, Büros und etwas Shopping. Nach dem Entwurf der Architekten Herzog & De Meuron kehrt auch die Friedrichstraßenpassage zurück.
Im Ristorante Roma zahlen die Gäste oftmals mit Karte. Allerdings muss Toni Zille dann vor die Tür gehen. Das Kartenlesegerät im Haus an der Friedrichstraße/Ecke Claire-Waldoff-Straße funktioniert drinnen nicht. Der Kellner blickt zu den Rohbauten auf der anderen Seite der Friedrichstraße rüber. Dort ziehen acht Kräne zehn Neubauten hoch, ein neues Stadtquartier entsteht. Die Technikstörung sei mit der Tacheles-Baustelle gekommen, sagt er. Sein Lächeln verrät, dass es ihn nicht stört. Toni Zille hat heute schon 26 360 Schritte gemacht, und es ist gerade kurz nach drei Uhr nachmittags. Nur seine Gäste sind verärgert. Sie kommen zur Mittagspause aus dem Friedrichstadtpalast und aus dem Gesundheitsministerium. Vom Esstisch blicken sie durch die verglaste Restaurantecke auf die Häuser entlang der Friedrichstraße – ein Panoramablick, zu dem bis vor kurzem auch die Synagoge in der Oranienburger Straße gehörte. Jetzt seien viele Gäste enttäuscht, dass die Aussicht verbaut wird, erzählt der Italiener.
Dabei sind die Aussichten auf das künftige Quartier Am Tacheles vielversprechend. Zwischen Friedrich-, Johannis-, Tucholsky- und Oranienburger Straße entsteht ein Block mit zwei Stadtplätzen, einem Hof und einer Passage, die in Kombination einen zusammenhängenden öffentlichen und rund um die Uhr geöffneten Stadtraum ergeben. „Uns war es wichtig, einen stadträumlich prägnanten Platz aus dem Blockinneren zu schneiden, der die besondere Form des Blockes (ein spitzes Trapez) aufnimmt und widerspiegelt“, beschreibt Ascar Mergenthaler vom Büro Herzog & De Meuron den zukünftigen „Bernstein-Platz“, der von der Oranienburger Straße bald direkt zur Kalkscheune und zum Friedrichstadtpalast führen wird.
Die Funktionen des Quartiers werden gemischt aus Arbeiten und Wohnen, Einzelhandel, Gastronomie und Kultur bestehen. Wobei der Schwerpunkt der Nutzung auf den Büros liegt. Mit 41 500 Quadratmetern nehmen sie fast die Hälfte der geplanten Geschossfläche ein. Dazu entstehen 275 Eigentumswohnungen, im Frühjahr beginnt der Verkauf.
Behutsame Stadterneuerung
Ein Quartier, das den Namen Tacheles in sich trägt, muss auch mit seinem Mythos umgehen und mit einer „alten Dame“, wie die Architekten die Kaufhausruine bezeichnen. Von der historischen Friedrichstraßenpassage zeugt heute noch die Portalruine. 1908 eröffnet, erwies sich das Kaufhaus aber schnell als Flop. Vielleicht soll es deshalb kein reines Einkaufszentrum werden. Im Gegenteil: Läden und Gastronomie werden auf gerade mal 12 000 Quadratmetern angeboten. Das ist wenig Shopping. In Berlin, wo die behutsame Stadterneuerung erfunden wurde, bemüht sich ein Projektentwickler um eine stadtteilverträgliche Mall. Denn in der Umgebung gibt es schon eine gewachsene Geschäftswelt. Das Ristorante Roma ist Teil davon.
Und was macht das Quartier Am Tacheles mit der einstigen Künstlerruine Tacheles? Sie wurde in der Nachwendezeit von Künstlern besetzt, die letzten zogen 2012 aus. Die Projektbeteiligte Marion Heine von Spring Brand Ideas verkündet, den „Geist des Tacheles“ erhalten zu wollen. Sie erschuf das neue Etikett für das Projekt, den Schriftzug „Am Tacheles“ mit einem auf den Kopf gestellten A symbolhaft für das Außerordentliche. Bisher ist für die denkmalgeschützte Tacheles-Ruine, die behutsam saniert und kulturell genutzt werden soll, noch nichts Genaues geplant. Es werde über ein Museum nachgedacht.
Der Tacheles-Mitgründer und heutige Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, Jochen Sandig, interpretiert das verdrehte A im Quartiersnamen so: „Investoren, macht einmal, was Ihr sonst nie tun würdet: Verzichtet!“ Sandig schwebt ein Zukunftslabor vor, organisiert als eine Stiftung. Den Tacheles-Geist, gewissermaßen seinen eigenen, erkennt er wieder in der „Generation Greta“, den streikenden Schülern und Jungerwachsenen, wie er sagt. Wer die Welt retten will, muss doch Tacheles reden. Die sanierte Künstlerhaus-Ruine will Sandig nicht vermarktet sehen, sie soll als die Basis der Bewegung Fridays for Future dienen. Dieser Vision hatte er bei der Grundsteinlegung im vergangenen September Nachdruck verliehen. Sandig sprang auf die Bühne und versenkte die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN mit der Grundsteinurne in den Tiefen des Tacheles-Fundaments. – Eine Botschaft für die Dunkelheit.
Die Mitte rückt zusammen
Der Name des Künstlerhauses (Tacheles: „Klartext reden“) bezog sich laut Jochen Sandig ausdrücklich auch auf die jüdische Geschichte des Gebiets. Da scheint es ein gutes Omen für das Quartier, dass bei den Bauvorbereitungen die Reste der Reformsynagoge in der Johannisstraße 16 gefunden wurden, schräg gegenüber der Kalkscheune. Zwölf Jahre älter als die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, handelt es sich bei ihr um die einzige Reformsynagoge, die in Berlin jemals gebaut wurde. Eine Bronzetafel und ein Brunnen sollen an sie erinnern, und ein Bildschirm im Durchgang von der Johannisstraße zum neuen Bernsteinplatz soll digital mit der Ausstellung im Centrum Judaicum verlinken.
Es sind diese öffentlichen Durchgänge, die das Quartier Am Tacheles zu einem echten Stück Mitte machen, einer Stadt mit Höfe-Flair. Auch die neue Friedrichstraßenpassage erscheint eher wie ein langgezogener Hof. Sie schafft eine Abkürzung von der Oranienburger Straße durch den Block und wird zu einem Shortcut mit ein bisschen Shopping. Am Ende der Passage liegt dann wieder das Ristorante Roma. Toni Zille, die Hemdsärmel immer hochgekrempelt, kann sich schon auf Gäste freuen, die mal nicht aus dem Friedrichstadtpalast oder dem Ministerium kommen, sondern vom Hackeschen Markt. Die Mitte rückt zusammen. Spätestens dann dürfte auch der Kartenleser wieder drinnen funktionieren.
André Franke