Theater in  der  Krise

Das Chamäleon Theater Berlin in den Hackeschen Höfen gilt international als eine der spannendsten Bühnen der Hauptstadt. In seiner Programmausrichtung auf den Neuen Zirkus ist es sogar einmalig.

Was ist der Neue Zirkus? Wenn man sich Vorstellungen des Cirque du Soleil vor Augen führt, hat man ein ungefähres Bild davon, wenngleich der Neue Zirkus im Chamäleon intimer, intensiver und explosiver ist. Artisten und Musiker erzählen eine meist schräge, ungewöhnliche Geschichte, die sich beispielsweise in einer WG, auf dem Hinterhof, im Zirkus oder sonst wo natürlich nie so zugetragen hat. Artistik in höchster Perfektion wird nicht, wie im traditionellen Zirkus, als Solostück zelebriert, sondern verbündet sich mit Tanz, Schauspiel, Comedy und ist voller überraschender Momente – einmalige Ensemblearbeit, bei der sich alles nahtlos zusammenfügt. Diese Kunst findet an traditionsreicher Stätte statt.

1906 wurde der Ballsaal (heute Chamäleon) eingeweiht. Die Mieter der Hackeschen Höfe, vorwiegend Gewerbetreibende, feierten hier ihre Feste. Später zog die Unterhaltung aus und die Kantine eines Kaufhauses ein. Zu DDR-Zeiten wurde der Saal als Lager genutzt und ein wenig Kultur kam wieder hinzu, aber eher im Geheimen. Das Fernsehballett und das Staatliche Tanzensemble probten hier. Nach dem Mauerfall ging es wieder bergauf mit der Kultur im Ballsaal. Das Chamäleon wurde eine gefragte Adresse für Kleinkunst. 2004 gab es einen Betreiberwechsel und die denkmalgerechte Sanierung. Damit hielt der Neue Zirkus Einzug in diesen stimmungsvollen Saal aus der Jugendstilzeit. Seit 2011 ist Hendrik Frobel Geschäftsführer. Als Zauberer kommt er aus der Showbranche, sattelte dann um zum Hotelfachmann und Manager, übernahm Leitungsfunktionen im Sea Life Berlin und war Generaldirektor im Legoland Discovery Centre in Duisburg. Nun steht er, wie viele seiner Kollegen in privatwirtschaftlich geführten Theatern, vor der vielleicht größten Herausforderung: ein geschlossenes Theater am Leben zu erhalten.

Am 12. März feierte „Le Coup – It’s fight night at the circus“ Premiere. Am 13. März wurde das Theater geschlossen. Keine Frage, das war hart. Vier Monate später sitzen wir mit Hendrik Frobel im Saal des Chamäleon. Die Tische und Stühle sind beiseite geräumt. Die Bühne macht dennoch den Eindruck, als würden gleich Künstler auftreten

Wie viele Berliner Theater hat auch das Chamäleon geschlossen und wird sobald nicht wieder öffnen. Wir sprachen mit Hendrik Frobel. Der Leiter des Chamäleon sieht angesichts der aktuellen Krisensituation seines Hauses und der Künstler vor allem die Politik in der Pflicht, Klarheit zu schaffen. Und er befürchtet, dass die Besucher nach der Corona-Krise nicht unbedingt in die Theater strömen werden.

Herr Frobel, wann geht es weiter?

Darauf kann ich aktuell keine Antwort geben. Zwar dürfen Veranstaltungen stattfinden. Doch die Abstandsregeln von 1,50 Met-ern zwischen den Plätzen oder Platzgruppen machen es für ein privates Haus wenig sinnvoll zu spielen. Dazu kommt die Vorschrift, dass intensiv atmende Künstler – und unsere Künstler geraten bei den Darbietungen schon mal außer Puste – einen Abstand von sechs Metern zum Publikum und untereinander einhalten müssen. Alle diese Regeln beachtend, würden wir maximal 70 von 272 Plätzen besetzen und nur mit wenigen Künstlern spielen könnten. Das macht finanziell für ein privates Haus keinen Sinn. Dass jetzt Veranstaltungen mit den Beschränkungen wieder zugelassen wurden, beruht möglicherweise auf der Tatsache, dass die Politik auf die hoch subventionierten Häuser geblickt hat. Diese haben einen Kulturauftrag vom Staat, den sie entsprechend den Gegebenheiten umsetzen können und wollen. Im Zweifel muss sich aber so ein Haus keine Sorgen machen, ob 300 oder 30 Zuschauer kommen können, die Kosten sind gedeckt.

Was wäre ein gangbarer Weg, damit Sie Ihr Haus wieder bespielen können?

Man lässt den Mindestabstand fallen, wenn man nachvollziehen kann, wo jeder einzelne Gast sitzt. Das kann man anhand der Eintrittskarten und unserer Systeme sofort tun. Denn unsere Karten sind personalisiert. Das ist ein gelerntes Modell bei jedem Theater. Hierzu sind wir in intensiven Gesprächen mit der Politik und den Gesundheitsbehörden.

Wie war das für Sie, als der Lockdown verordnet wurde?

Die Premiere war gerade erfolgreich gelaufen. Da wir nicht weiterspielen konnten, sind wir auf den Kosten sitzengeblieben, die solch eine Neuinszenierung verursacht. Üblicherweise kommt das Geld in der Spielzeit wieder rein. Das war nun nicht der Fall. Seit März führen wir daher Gespräche mit dem Senat. Es gab bekanntlich milliardenschwere Soforthilfen. Wir sind allerdings durch jedes Hilferaster gefallen und mussten zunächst einen privaten Kredit aufnehmen. Die Programme für Unterstützungen wurden dann erfreulicherweise immer konkreter zugeschnitten und Ende Juni wurde auch das Chamäleon mit staatlicher Hilfe bedacht.

Wie war die Stimmung bei Ihnen im Haus in dieser Zeit?

Es war deprimierend. Aber es gab auch ein besonders schönes Zeichen der Solidarität. Eine Kollegin hat Künstlerinnen und Künstler kontaktiert. Dabei heraus kam ein 15-minütiges Video mit Botschaften aus aller Welt. Wir konnten hören und sehen, wie wichtig das Chamäleon für sie war und ist. Immer wieder kam die Frage, was sie für das Chamäleon tun können. Das waren Gänsehautmomente.

Die Künstler der Kompanie, die mit „Le Coup“ im Chamäleon Premiere feierten, standen auch plötzlich vor dem Nichts.

Unsere Künstler leben und arbeiten hier in der Regel ein halbes Jahr. Das Ensemble von Le Coup kommt aus Australien und ist zunächst geblieben. Wir hatten alle die Hoffnung, dass sich alles im Sommer lockern würde. Wir haben miteinander gesprochen, die Wohnungen weiterhin und den Lebensunterhalt für die Künstlerinnen und Künstler in Berlin finanziert, wobei diese auf große Teile ihrer Gage verzichteten. Außerdem war es äußerst schwierig, nach Australien zurückzufliegen. Schließlich mussten wir sie ziehen lassen, das war schmerzhaft, aber wir sahen keinen anderen Weg.

Das heißt, sie sehen in nächster Zeit keinen Weg, dass private Theater wieder spielen können?

Wir hängen am Arm der Politik. Ein ganz klares Bekenntnis der Politik ist notwendig. Denn wir wollen, dass alle wieder an den Start gehen. Im Moment lautet dieses Bekenntnis: Ein bisschen „Ja“ – mit Einschränkungen.

Was bedeutet das für das Chamäleon?

Schauen Sie sich die Gastronomie an: Sie ist derzeit eine Grauzone. Eigentlich sind hier 1,50 Meter Mindestabstand zwischen unterschiedlichen Haushalten einzuhalten. In den öffentlichen Verkehrsmitteln und Läden herrscht Maskenpflicht. Gepaart mit dem stetigen Risiko, welches uns vermittelt wird. Wer möchte sich da wirklich in einen Raum mit 100 Leuten setzen? Was kann, was darf ich? Angst und Sorge schwingen überall mit.

Es braucht ein klares Signal an die Bevölkerung, wann es sicher oder zumindest sicherer ist. Wie soll eine gelöste, entspannte Stimmung im Theater aufkommen, wenn Angst mitschwingt?

Die Kultureinrichtungen werden nicht gerade gestürmt, die jüngsten Zahlen belegen dies. Was, glauben Sie, sind die Gründe für die Zurückhaltung?

Kulturangebote, die man zuhause nutzen konnte, rückten in den Vordergrund, beispielsweise die digitalen. Streamen – haben viele festgestellt – ist cool. Mancher hat sich vielleicht ein neues Gerät gekauft und sein persönliches Budget aufgebraucht und sich gedacht, eine Opernaufführung auf Arte ist auch nicht schlecht. Es wird eine Zeit dauern, die Zuschauer wieder für Live-Erlebnisse zu gewinnen. Auch hier braucht es einen gemeinsamen Kraftakt zwischen Kulturanbietern, Medien und der Politik, einen Sinneswandel, zu unserer ursprünglichen Normalität zurückzuführen.

Viele Theater haben sich entschieden, Vorstellungen zu streamen oder ältere Aufzeichnungen ins Netz zu stellen. Das Chamäleon hat das nicht getan. Warum?

Wir haben darüber diskutiert und uns dagegen entschieden. Eine Geistershow wollten wir nicht zeigen, weil wir überzeugt davon sind, dass solch eine Übertragung kein Live-Erlebnis ersetzen kann. Wir sind ein Ort der Emotionen, des unmittelbaren Dabeiseins.

Viele Künstler haben schnell und unbürokratisch finanzielle Unterstützung erhalten. Ihnen fehlt aber die Arbeit.

Das Finanzielle ist das eine, und die eingeleiteten Maßnahmen sollten in jedem Fall fortgeführt werden. Doch Künstlerinnen und Künstler wollen ihr Können zeigen. Um ihnen den Ausgang aus der Corona-Krise zeigen zu können, braucht es klare Strategien. Ich begrüße sehr das Programm der Bundesregierung, das dafür Weichen gestellt hat. Kunstschaffende erarbeiten mit Theatern gemeinsam Programme. Wir können uns sehr gut vorstellen, mit ihnen etwas zu erarbeiten, das später gezeigt werden kann, wenn die Krise überstanden ist.

Danke für das Gespräch.

Martina Krüger

 

83 - Sommer 2020
Kultur