Streifzug Schöneberg

Zu Mauerzeiten gehörte Schöneberg zu den gefragten Ausgehvierteln Berlins. Mit Beginn der neunziger Jahre zogen­ viele Clubs und Bars ostwärts nach Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Aber es lohnt sich, den Charme der ­Gegend um Goltz- und Akazienstraße neu zu entdecken.

Wer Schöneberg kennenlernen will, spaziert am besten am Samstag über den Winterfeldtplatz. Auf dem dortigen Wochenmarkt gibt es nicht nur frisches Bio-Brot, italienischen Taleggio-Käse und handgefertigte Filzpantoffeln zu kaufen; nein, hier tummeln sich auch die Schöneberger, um beim Händler ihres Vertrauens frisches Obst zu kaufen und Bekannte, Freunde und Nachbarn zu treffen. Vor allem auch in den umliegenden Cafés, wie das mit kanadischen Spezialitäten aufwartende Tim‘s Deli oder das Café Berio.

Ein paar Schritte weiter gelangt man in die Goltzstraße, bekannt für zahlreiche Kneipen und vor allem indische Restaurants. Hier befindet sich das äußerlich unscheinbare Café M (Goltzstraße 33), eine Institution zu WestBerliner Zeiten. Ursprünglich als Café Mitropa – was der damaligen Speisewagengesellschaft aber gar nicht gefiel – eröffnet, pulsierte hier in den achtziger Jahren das Nachtleben der Mauerstadt. Veteranen berichten von unfreundlichem Personal, einer ästhetisch zweifelhaften Einrichtung und der standhaften Weigerung der Betreiber, das damals obligate Beck‘s-Bier auszuschenken – was freilich ­weder Berliner noch (oft prominente) Zugereiste daran hinderte, hier die Nächte durchzufeiern.

Wer heute aufregende Stunden verbringen will, wird eher in Friedrichshain oder Mitte fündig. Das M ist mittlerweile ein ganz normales Café und passt insofern gut in die unspektakuläre Vielfalt der Goltzstraße. Den einen oder anderen Weinanbieter findet man hier, aber auch eine Reisebuchhandlung, einen Laden, der Regale auf Maß fertigt, ein alteingesessenes Bastelspezialgeschäft und das Café Sorgenfrei, in dem man seinen Milchkaffee inmitten von Einrichtungsgegenständen aus den fünfziger Jahren schlürfen kann.

Eine ähnliche Mischung prägt die Akazienstraße. Besonders beliebt ist hier das Café Bilderbuch (Akazienstraße 28), in dem auch kleine Veranstaltungen stattfinden. Schräg gegenüber befindet sich der Felsenkeller, eine legendäre Bierkneipe im 20er-Jahre-Stil.

Es lohnt sich ein Abstecher in südwestlicher Richtung in die Hauptstraße. Dort, wo sich die Straße weitet, erstreckte sich einst der Anger des alten Dorfes Schöneberg, das erst 1920 Teil von Groß-Berlin wurde. Erhalten geblieben ist aus dieser Zeit die 1766 errichtete Dorfkirche. Die Villen in ihrer Nähe ließen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die so­genannten Millionenbauern errichten, die im Zuge der Verstädterung durch den Verkauf von Grund­stücken zu plötz­lichem Reichtum gekommen waren.

Neben diesen dörflichen Reminis­zenzen hat Schöneberg auch ausgesprochen großstädtisches Treiben zu bieten. Das gilt hauptsächlich für die Motz­straße und ihre Seitenstraßen, die schon in der Weimarer Republik eine bevorzugte Wohn- und Aus­geh­gegend der Schwulen waren. So wohn­­te in einer Pension in der Nollen­dorf­straße 17 um 1930 der Schriftsteller Christopher Isherwood, dessen Roman­ „Goodbye to Berlin“ die Grund­lage für das Musical „Cabaret“ bildete. Einschlägige Bars und Kneipen finden sich hier auch heute noch in Hülle und Fülle. Am U-Bahnhof Nollen­­dorf­platz erinnert zudem eine Gedenk­tafel an das Schicksal der von den Nationalsozialisten verfolgten Homosexuellen. Beachtenswert ist am Nollendorfplatz ferner das pompöse, vor gut hundert Jahren errichtete Theater­gebäude, in dem ab 1927 der Regisseur Erwin Piscator seine revo­lutio­nä­ren Aufführungen inszenierte. Als Diskothek Metropol zog das Haus später das Party-Volk an; seit 2005 wird es unter dem Namen Goya als Club betrieben.

Ein weiteres Zeugnis der Geschichte ist das Rathaus Schöneberg, vor dem der amerikanische Präsident John F. Kennedy am 26. Juni 1963 seine berühmte Rede („Ich bin ein Berliner“) hielt. Während der deutschen Teilung diente das Rathaus als Sitz des West-Berliner Senats. Am Rathaus Schöneberg beginnt auch das Bayerische Viertel. Hier fallen die im Straßenbild angebrachten Tafeln auf, die auf der einen Seite ein Symbol (zum Beispiel eine Sitzbank) zeigen, auf der an­de­ren Seite eine Vorschrift des NS-Regimes („Juden dürfen am Bayeri­schen Platz nur die gelb markierten Sitzbänke benutzen“) zitieren. Sie bilden eine Installation, welche die Künstler Renata Stih und Frieder Schnock 1993 schufen – zur Erinnerung an die verfolgten Juden, von ­denen viele im Bayeri­schen Viertel wohnten. Eng mit der NS-Herrschaft verbunden ist auch das Kammer­gericht am Kleistpark (Elßholzstraße 30-33): In dessen großem Saal tagte der Volksgerichtshof unter dem berüchtigten Roland Freisler, der hier auch über die Verschwörer vom 20. Juli 1944 zu Gericht saß.

Nach so viel Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der deutschen Geschichte hat man sich wahrlich eine Stärkung verdient. Dafür bietet sich zum Beispiel die in der Nähe des Kammergerichts gelegene Crellestraße an, eine Wohnstraße mit angenehmen Cafés, ruhig, unspektakulär und sympathisch – eben ganz so wie Schöneberg.

Emil Schweizer
 

36 - Herbst 2008