Was wäre eine Stadt ohne ihre Plätze? Manche sind groß, manche klein. Manche berühmt, manche unbekannt. Sie sind quirlige Touristenattraktionen oder lauschige Rückzugsorte für die Stadtbewohner. Plätze in der Stadt haben ihre Geschichte und kleinen Geheimnisse, die es zu ergründen lohnt. Diesmal: Der Mexikoplatz
Am Mexikoplatz wirkt die Stadt an diesem Sommerwochenende seltsam entrückt. In Berlins Mitte, hinter dem Brandenburger Tor, treibt die Polizei mit Wasserwerfer und Schlagstöcken eine nicht genehmigte Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen auseinander. Am Abend zuvor kam es am James-Simon-Platz, gegenüber der Museumsinsel, zu heftigen Auseinandersetzungen mit jungen Leuten, die dort bis tief in die Nacht eine Massenparty feierten. Flaschen flogen, Messer wurden gezückt, es gab Verletzte auf beiden Seiten. Die Nerven liegen blank.
In Zehlendorf ist davon nichts zu spüren. Friedlich liegt der Mexikoplatz in der Sonne. Marktfrauen haben wie an jedem Wochenende ihre Stände aufgebaut, es gibt Blumen, Blaubeeren und Basilikum. Das Eiscafé mit seinen schönen alten Bäumen – endlich kann man wieder schlemmen! – ist gut besucht. Alles wie immer hier draußen im Westen Zehlendorfs, als sei die Welt nicht aus den Fugen.
Der Platz wurde Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt, ein symmetrisches Ensemble, das von der Argentinischen Allee in zwei Hälften geteilt wird. Jede Seite schmücken spiegelgleich ein Springbrunnen, gepflegte Blumenrabatten, Grünflächen, Parkbänke. Erst 1959 erhielt er, in Anlehnung an die Bezeichnung der umliegenden Straßen, seinen heutigen Namen.
Dominiert wird das ganze Ensemble von dem schönen Bahnhofsgebäude im Jugendstil mit Kuppel und verspielten Dächern aus Biberschwanz-Ziegeln. Der Bahnhof wurde nach Plänen von Gustaf Hart für damals 120 000 Mark gebaut und 1905 an der Strecke Berlin-Potsdam eröffnet. Damals fuhr noch eine Dampflok, erst 1933 wurde die Strecke elektrifiziert.
Seit 16 Jahren handelt die libanesische Familie Aoun unter der Bahnhofskuppel mit Obst und Gemüse. Im ehemaligen Kartenhaus werden Blumen verkauft. Es gibt eine Weinhandlung, eine „Brotmeisterei“ und die unvermeidliche „Bahnhofsklause“. Noch vor ein paar Jahren gab es auch einen Buchladen, in dem regelmäßig Lesungen und Diskussionen stattfanden. Aber dann verlangten die Bahnhofsbesitzer – zwei Berliner Geschäftsleute hatten das Gebäude 2001 von der Bahn erworben, saniert und vermietet – mehr Geld von den Buchhändlern. Erfolglos setzte sich eine Bürgerinitiative für den Erhalt des Bahnhofs als kulturellen Treffpunkt ein. So folgte, wie so oft, Fleischeslust auf Geist und Kultur. Mit „Grill dich glücklich“, lädt der Fleischer Bachhuber jetzt seine Kunden im ehemaligen Buchladen ein. Die Buchhändler sind nach Kleinmachnow gezogen.
Um Geld ging es schon immer in Zehlendorf. Wo einst nichts als sandiger Boden und Sümpfe waren, erwarb im letzten Viertel des 19. Jahrhundert eine Zehlendorf-West-Terrain-Aktiengesellschaft unter der Kontrolle des sehr vermögenden Grafen Guido Graf Henkel von Donnersmark 400 Morgen Land, parzellierte und verkaufte die großzügigen Grundstücke nach und nach an Adlige, Banker, reiches Bürgertum und höhere Beamte. So entstand in der einst eiszeitlichen Senke mit Wäldern und Seen ein edler Villenvorort rund um den Mexikoplatz. Später kamen Nikolassee, Schlachtensee, Grunewald dazu. Die Wannsee-Bahn verband ab 1874 den luxuriösen Vorort mit Berlin und seinen massenhaft entstehenden Mietskasernen. Schon 1910 fuhren Züge im Berufsverkehr im Fünf-Minuten-Takt nach Berlin, wo das Geld verdient wurde, 146 Züge täglich, 26 Minuten bis Potsdamer Platz. Ab Zehlendorf-Mitte verkehrten sogenannte Bankierszüge – 17 Minuten ohne Zwischenaufenthalt. Von den Schäden des Zweiten Weltkrieges blieb Zehlendorf weitgehend verschont und sein ursprüngliches Bild ist bis heute erhalten.
Mit „Luxus definiert jeder anders!“ wirbt ein Bad-Einrichter auf einem Schild am Zaun des Restaurants La Gondel, das am Platz liegt und sich mitten in der Sommersaison vier Wochen Ferien gönnt. Muss man sich ja auch leisten können, jetzt, wo nach der langen Corona-Pause die Saison gerade wieder anläuft.
Wohnluxus spürt man jedenfalls noch heute überall in den Straßen rund um den Mexikoplatz: große alte Villen auf großen alten Grundstücken mit großen alten Bäumen, beschauliche Ruhe, bürgerliche Gediegenheit.
Wo’s Herrchen und Frauchen gut geht, soll’s auch Hund an nichts fehlen. Gleich neben dem guten alten Café Krone mit edlen Torten, Blümchentapeten und Sammeltassen im Setzkasten bietet der Tierbabier Canini sein „Königsprogramm“ für kleine Hunde an: Waschen, Föhnen, Frisieren, Ohrenzupfen, Krallenschneiden, Pfotenpflege. Dazu gibt’s auf einer Tafel im Laden gratis Selbstgedichtetes: „Gemütlich abends auf der Couch entspannen, Stress und Hektik aus dem Kopf verbannen. Der Hund, ganz brav und treu ergeben, liegt schnarchend unterm Tisch daneben. Da erklingt ein Grummeln, leis und kurz, schon liegt er in der Luft, ein Hundefurz … Doch völlig skrupellos und voller Hohn, der Hund steht auf und schleicht davon. Zurück bleibt nur sein kleines Tschüss, Hunde sind ja wirklich süß.“
Thomas Leinkauf