Zurück zur Natur

Wieder verwandelt die Kunstausstellung „Rohkunstbau“ das verwunschene Schloss Lieberose einen ganzen Sommer und Herbst lang in ein Zwischenreich aus Gemäuer, Empfindung und Idee.

Mit „Ich bin Natur“ ist die diesjährige Sommerausstellung Rohkunstbau überschrieben. Untertitel: „Von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risikogesellschaft“. Das hört sich zunächst vage und ein wenig beliebig an. Denn eher liegt die Natur gerade hinter einem, wenn man den kargen, ruinenartigen Eingangshof des verfallenen Barockschlosses Lieberose betritt. Selbst mit Maske zieht der trockene Geruch von uraltem Staub in die Nase. Umgibt schlagartig eine steinerne Kühle die Besucherinnen und Besucher, weicht die gleißende Helligkeit des Brandenburger Sommers einer fröstelnden Schattigkeit, wie sie typisch für altes Gemäuer ist. Viel ist zwar von der noblen Grandezza des einstigen Adelssitzes nicht mehr übrig. Unzählige Schichten von Farbe sind nach und nach abgeplatzt und geben den Böden, Wänden und Decken einen Anschein von Flechten und Organismen, die sich den einstigen Hort der gehobenen Zivilisiertheit längst wieder angeeignet haben. Aber genau hier beginnt es, interessant zu werden.

Im 26. Jahr findet diese außergewöhnliche Schau zeitgenössischer Kunst in Brandenburg statt, zum vierten Mal im Schloss Lieberose im Spreewald und zum zweiten Mal kuratiert von der Berlinerin Heike Fuhlbrügge. In diesem Jahr hat sie Werke von 22 Künstlerinnen und Künstlern aus dem In- und Ausland spannungsvoll in die eigenwilligen Räume gesetzt. Darunter sind neben Neuentdeckungen aus Deutschland auch Superstars wie das britische Künstlerduo Gilbert & George. Sogar Yoko Ono hat mit ihrem „Wish Tree“ ein Werk von 1996 in aktualisierter Version beigesteuert. Im Erdgeschoss empfängt einen aber erstmal eine riesige, kahle Ulme, die mit ihren verzwirbelten Ästen den gesamten Raum ausfüllt und Besucher nur widerwillig zu dulden scheint. Beim näheren Hinsehen erkennt man, wie die Stücke auseinandergesägt und wieder zusammengeschraubt worden sind. Für dieses Werk setzt sein Schöpfer, der deutsche Künstler Jochen Dehn, die Teile eines Baumes, den er einst an der polnischen Grenze fand, je nach Ausstellungsort immer wieder neu zusammen. Was auf Anhieb wie ein über Jahrzehnte knorrig gewachsenes Stück Natur aussieht, wurde von Menschenhand geformt. Das Werk mit dem Titel „Bowling Ball Beach 2“ ist eines, das in dieser Ausstellung am eindrücklichsten die vielen fließenden Grenzen zwischen Mensch und Natur zum Thema macht.

Etwas vordergründiger, aber auf ebenfalls faszinierende Weise arbeitet die in Deutschland lebende Brasilianerin Luzia Simons in ihrer Installation „Correspondance“ mit den Gegebenheiten des Ortes. Wie die abgefallenen Blätter einer verblühten Blume liegen 72 Keramikelemente scheinbar wahllos verstreut vor einer Leinwand mit einem üppigen Blumenstilleben. Gleichzeitig nehmen sie die plastische Formensprache der üppigen Stuckelemente an der Decke des Ausstellungsraumes auf.
Die Münchnerin Claudia Chaseling wiederum bringt in ihren farbstrotzenden Wandgemälden „blind spots“ und „deluge of delusion“ eine geradezu atomare Energie in die von ihr gestalteten Räume. Formal vom Comic beeinflusst beschäftigt sich die Künstlerin inhaltlich seit langem mit den Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf Natur und Menschen. Mit grellen Farben und Silberfolien schafft sie Bilder, die mit ihrer Energie die Wände, an denen sie hängen, geradezu zu verzerren scheinen.

Der Gang durch die Räume dieser Ausstellung bringt intensive Eindrücke und ist manchmal auch verwirrend. Gerade weil man nie genau weiß, hinter welcher Tür die nächsten Exponate warten, kann man fast im Vorbeigehen Schönheit im Zerfall entdecken. Mehr als einmal bleibt der Blick an einer der schrundigen Mauern hängen und gleitet dann auf ein sorgsam gehängtes Exponat, das genauso fleckig wirkt. Wo genau liegt eigentlich der inhaltliche Unterschied, wenn ein Kunstwerk und die Wand, an der es hängt, derart zum Verwechseln ähnlich aussehen? Wenn man sich auf das Zusammenspiel von Raum und Werk einlässt, kann man sich tief in eine intensive Reflexion darüber eingraben, worin das Wesen von Kunst überhaupt liegt. Dieses faszinierende und oft auch überwältigende Zusammenspiel von Kunst und Umgebung ist eine der Stärken des Rohkunstbaus.

In einem der letzten Räume watet man durch eine dicke Schicht Sand, vorbei an einem blutrot beleuchteten Obduktionstisch, der auf die nächsten Toten zu warten scheint. Es ist eine beklemmende Installation des Berliner Künstlers Michael Müller mit dem Titel „Ich trage Dich wie eine Wunde ...“. Als Teil der Natur sind wir verletzlich und können jederzeit sterben. Für einen Moment haben die Schwere und Schattigkeit gewonnen. Dann tritt man wieder ins gleißende Sommer- oder Herbstlicht Brandenburgs und fühlt sich lebendiger denn je. Der Rohkunstbau im Schloss Lieberose ist eine Erfahrung, die man sich unbedingt gönnen sollte. In dieser Form wird sie vielleicht das letzte Mal möglich sein – im Dorf wird gemunkelt, dass das Schloss Lieberose einen Käufer gefunden habe.

Susann Sitzler

 

Rohkunstbau 26

Ich bin Natur. Von der Verletzlichkeit. Überleben in der Risikogesellschaft
Schloss Lieberose, Schlosshof 3, 15868 Lieberose
Bis 3. Oktober 2021, geöffnet Sa/So von 12 bis 18 Uhr. Tickets 12 Euro, erm. 7 Euro. Kinder unter 12 kostenlos. Buchung notwendig
unter www.rohkunstbau.net

 

 

86 - Herbst 2021
Kultur