Sofas waren in den letzten Jahren die Renner im Interieurdesign: Multifunktionssofas zum Lümmeln für alle! Tische, Stühle, Lampen beherrschten ebenfalls das Blickfeld. Erst recht im Homeoffice. Aber was ist eigentlich mit Sesseln? Wieviel Sessel ist erlaubt, seit es die klassische Sitzecke – Sofa plus zwei Sessel – kaum noch gibt? Sind Lesesessel gar eine geschützte Art? Und wird der Fernsehsessel noch gebraucht?
Im vergangenen Jahr bestimmten Homeoffice, Homeschooling und die Anforderung, viele Dinge möglichst unter einen Hut zu bringen, das Dasein von vielen Familien und Debatten während der Zeit des Lockdowns. Jetzt – der Sommer hat begonnen – zählt Frohsinn in Sachen Pandemie allerdings mit einem etwas „sorgenvollen Blick“ (so zumindest der Gesundheitsminister Jens Spahn) auf den Herbst. Dennoch soll in den kommenden Monaten möglichst alles besser laufen. Dann wird es auch Zeit, sich einfach einmal fallen zu lassen, Muße zu empfinden und vor allem auch mal wieder Besuch zu Hause zu haben.
Einfach mal sitzen, meint also hier nicht die Küchenbank, den Hocker, den Bürostuhl, sondern den Sessel, weich und behaglich, der hinter all den raffinierten Sofas als Lebensort der kompletten Familie etwas ins Hintertreffen geriet.
Gibt es ihn noch, den Sessel oder eher die Sessel? Hat er noch seinen angestammten Platz in der Lesecke? Die Antwort lautet: Ja! Sogar gleich mit dem Namen „The Readers“ (dt.: der Leser). Verzaubert er noch Räume mit seiner eleganten Gestalt und wandelt diese gar zu Salons? Ja! In Berliner Salons! Es ist vielleicht nicht so lange her, dass der Sessel seinen prominentesten Platz gleich vis á vis eines respektablen Fernsehgerätes hatte. Der Sessel, den der Papa für sich und Fußball beanspruchte, ist ein Klischee und scheint als solches auch auf ein Rollenmuster aus den Fünfzigern zu verweisen, das allerdings weit bis in die Neunziger reichte. Und wie sieht es heute mit dem Sessel aus, gibt es ihn nach wie vor? Aber wie sieht er dann aus? Lederbezug? Beinteil und Rückenlehne optimierbar? Hohe Lehne? Der „TV-Sessel“, der nicht einfach ein Lieblingsmöbel zum Fernsehgucken ist, sondern der diesen Titel herstellerseitig beansprucht, ist ein regelrechtes Spezialgerät unter den Sitzmöbeln. Seine nahezu obskure Bequemlichkeit verbindet sich mit technischer Raffinesse, die auf Knopfdruck ins Spiel kommt. Selten begegnet man ihm im realen Leben.
Es ist generell eine Sache der Produzenten, ihre Produkte zu kategorisieren. Und da wird auch bei Sesseln groß aufgefahren: Ohrensessel, Relaxsessel, Schaukelsessel, XL-Sessel mit überlangem Beinteil, fast schon eine Ottomane, ehe die zu meist üblichen Einzelsessel und Loungesessel, Klassiker wie Designneuheiten ins Blickfeld geraten. Und nicht zu vergessen der „Chesterfield“, ein traditionelles Lederexemplar mit dicker Polsterung und Knopfheftung, der sich rustikal zeigt und zu den unverwüstlichen Sitzmöbeln zählt, freilich völlig ungeeignet für kleine Wohnungen. Der englische Graf von Chesterfield, Philip Dormer Stanhope, hatte an den Möbelbauer Robert Adams (1728 – 1791) im Jahre 1771 den Auftrag für einen bequemen Sessel erteilt. Seine Kreation galt als ein Durchbruch in der damaligen höfischen Sitzkultur. Ein Chesterfield gehört in ein geräumiges Ambiente, in ein Loft, in einen englischen Club, der auf Tradition hält, wogegen im jungen britischen Interieur elegante Leichtigkeit gepflegt wird. „Japandi“, ein Stilmix aus skandinavischem und japanischem Lebensgefühl, das sich etwa im betont niedrigen Sessel „Ottoman“ von Scholten & Baijin für Moroso ausdrückt, gilt als neuer Schick. Und das nicht nur in England. Es ist ein globaler Trend, der Harmonie, Komfort und Gelassenheit verspricht: sanfte Farben, weiche Polsterung, niedrigere Konstruktionen, wenige Accessoires.
Sessel aller Art sind Hingucker, Lieblingsplätze und regelrechte Zielpunkte in der Wohnung.
Bitte setzen Sie sich!
Die Sesselgeschichte kann bis heute begehrte Highlights aufweisen: Da wären der armlehnlose superelegante „Barcelona Chair“ von Le Corbusier. Oder der LC 2 von Mies van der Rohe, ein überaus beliebter eckig-weicher Sessel aus gebogenem Stahlrohr und Leder, in den man sich hineinsetzt wie in eine Box. Mit dem 1958 kreierten „Swan Chair“ für die Hotellobby des Radisson SAS Royal Hotels in Kopenhagen beeindruckte Arne Jacobsen seine Zeitgenossen. Skandinavisches Design entfaltet ungebrochen bis heute seinen Charme und ist längst aus den Hotellobbys in private Wohnungen eingezogen: sei es als Redesign oder Neuinterpretation. Zumindest ist die Leichtigkeit übriggeblieben.
Zur Ausstattung des SAS-Hotels gehörte auch der ebenfalls von Jacobsen 1958 entwickelte „Egg Chair“ mit seiner hohen und kurvigen Form – Kunststoffhartschale und Polsterung, in die man sich perfekt einnisten kann. Nicht ganz ohne Humor entwickelte sich das Thema der Ei-Stühle. Bereits zwei Jahre zuvor, 1956, hatte Hans Olsen einen flachen asymmetrischen, schwungvollen „Fried Egg“, einen „Spiegelei-Sessel“ entworfen. Die Idee der Behütung und Behausung wiederum entwickelte der Finne Eero Aarnio 1963 mit seinem „Ball Chair“ zur Raumkapsel aus Fieberglas und Textil. Aber auch die junge Designergeneration liefert sogenannte Klassiker und Pittoreskes.
Zu Letzterem mag der Sessel „Ayub“ vom niederländischen Designer Edward van Vliet zählen: hockerhafter Sitz, hohe Lehne, weich und rundlich in knalliger Farbe. Patricia Urquiola punktete vor wenigen Jahren schon mit „Husk“, einem eher sportlichen Hartschalensessel, in den die quadratisch gesteppte Polsterung lässig eingelegt wird. Ein neueres Modell der Stardesignerin aus dem Süden spielt nicht nur mit der Namensgebung „570 Gender“. Sie initiiert auch Vielfalt und Buntheit mit sieben Farbkombinationen. Zig Sesselmodelle stammen allein schon aus der Kreativfeder der gebürtigen Spanierin. Der Jüngste – „Ruff“ – zeigt sich rundlich, niedrig, weich gepolstert – ganz „japandi“.
Ein Sitzteil mit Drehfuß wie der eher strenge „Hepburn III“ kann sehr charmant wirken im Rundumblick durchs ganze Zimmer. Drehsessel sind auch ein schönes Spielzeug für den Nachwuchs, das Karussell zu Hause.
Es gibt Alkovensessel, es sind die Verwandten der Ohrensessel, die ebenfalls in England erfunden wurden. Sie beherbergen einen so komfortabel, dass es leicht ist, die Tagesanforderungen zu vergessen. Zumindest die Rundumgeräusche sind deutlich gedämmt. Antonio Citteros „Grand Repros“, mit einem Hocker zum Ottoman erweitert und teuer wie ein Kleinwagen, schwungvoll tailliert auf einem Aluminiumgestell, gehört in diese edle Sesselfamilie. Die Liste der strengen oder verspielten, geometrisch innovativen oder Tradition adaptierenden Sitzmöbel ist lang und reicht von Metall- und Holzgestellen, Schalenkonstruktionen, Gitternetzen, Leder- und Samtbezügen bis zu fellbesetzten Hinguckern.
Auch Sessel feiern Geburtstag! Etwa der Ikea-Kultsessel „Poäng“ mit seiner hohen Lehne und dem entspannenden Wippeffekt. Er wurde bereits 2018 vierzig und, ja, er wird noch immer geliebt.
Die Generation Netflix bevorzugt vermutlich das Sofa „irgendwie über Eck“, auf dem alle lümmeln können und die Laptops ebenfalls ihren Platz haben.
Bei den neuen Sesseln dominieren statt Wippkufen und Stelzbeinen poofähnliche Unterkonstruktionen. Wubblige Armlehnen, eine dicke Rücken-polsterung und Bodennähe. Man stelle sich den kantigen Tecla F51 von Walter Gropius, die Kantigkeit par excellence, weichgewaschen und mit Daunen gestopft, vor. Manche Rückenlehnen suggerieren Rettungsringe, die wohl nicht nur symbolhaft gebraucht werden auf hoher See der Lebensunsicherheiten. Es mangelt aber nicht an Eleganz. Doch optisch scheint es die größte Trendwende seit etlichen Jahren kantiger dünner Möbel.
Lümmeln statt sitzen
Selten geht es beim Zu-Hause-Sitzen um Schicklichkeit, sondern eben ums Fallenlassen. Die Füße hochzulegen oder über eine Lehne zu baumeln, ist allerdings Familienmitgliedern bzw. Mitbewohnenden vorbehalten, wenn diese unter sich sind. In öffentlichen und semiprivaten Situationen oder wenn Gäste kommen, geht es zumeist um Haltung. Es zählt Anmut. Fragen werden wichtig: Kann man sich einigermaßen charmant zurücklehnen, ohne früher oder später wie ein nasser Sack zusammenzurutschen? Wohin mit langen Beinen? Falsche Sessel können wahre Quälgeister sein. „Can“ mag die zeitgenössische Antwort sein, die Ronan und Erwan Bouroullec, längst die erwachsenen und vielfach peisgekrönten unter den jungen Designern, allein schon mit dem Namen ihres Sessels geben. „Can“ hat (noch) ein minimalistisches Gestell, ein breites Kissen, eine heitere Ausstrahlung. Schräg sitzt es sich darin am besten: die Haltung weniger aufrecht als lässig.
Anita Wünschmann