Mit Sascha Wiederhold hat die Neue Nationalgalerie einen vergessenen letzten großen Maler der Moderne wiederentdeckt. Dass die Bilder von Sascha Wiederhold wiederentdeckt wurden, ist Glücksfall und Sensation zugleich. Zwar wurde sein Hauptwerk, das Gemälde „Bogenschützen“ von 1928 bereits 2013 aus Galeriebesitz für die Sammlung der Neuen Nationalgalerie angekauft, für eine größere öffentliche Wahrnehmung sorgte aber erst jetzt die aktuelle Ausstellung „Sascha Wiederhold. Wiederentdeckung eines vergessenen Künstlers“ zusammen mit weiteren großartigen Gemälden des Malers aus dessen kurzer Schaffenszeit.
Sascha Wiederhold
Repro: Anja Elisabeth Witte
Wiederhold, eigentlich Ernst Walther, kam 1924 aus Münster nach Berlin und hatte bereits ein Jahr nach seinem Kunststudium seine erste Ausstellung in Herwarth Waldens berühmter Galerie „Der Sturm“. Walden, der die künstlerische Avantgarde der 1920er-Jahre um sich versammelte, war von dem jungen Wiederhold genauso begeistert wie das Publikum heute, das kaum begreifen kann, wie solch ein Malergenie in Vergessenheit geraten könnte. Denn wie kein anderer Künstler jener Zeit hat Wiederhold den damaligen Zeitgeist mit den vorherrschenden künstlerischen Mitteln eingefangen. „Aller Bewegung zusammen ergibt die Bewegung der Stadt. Alles ist beschäftigt; alles läuft einem Ziel zu, das in einem fort überall und nirgendwo ist. In gleicher Richtung strömen die ungeheuren Kolonnen der großen Fahrzeuge, die schön in der Masse und durch ihre Bewegung sind. Alles flimmert und glitzert, die großen und die kleinen farbigen Schaufenster, die Lichter der Lichtreklame, nichts ist beständig, wechselnd wie die Gedanken der Menschen, die alles beleben, wird immer ein Ding wieder vom anderen belebt.“ Berlin in seiner Glanzzeit – das ist vor allem die zweite Hälfte der Zwanziger Jahre, die sogenannten Goldenen Zwanziger. Bernhard von Brentano erkundete in zwölf Monaten die damals wohl aufregendste Stadt in Europa. Eine brodelnde Metropole, die von einem elektrischen Knopf aus in Bewegung gesetzt scheint. Dieses Lebensgefühl einer Zeit, deren Wirklichkeit von Extremen bestimmt war und deren Mythen uns bis heute faszinieren, künstlerisch zu erfassen, vermochte niemand eindrucksvoller als Sascha Wiederhold. Er gab mit seinen Bildern der kurzen wirtschaftlichen Blütezeit der „Golden Twenties“ im wahrsten Sinne einen kongenialen Ausdruck. Und das mit Ausdrucksformen, die aus den unterschiedlichsten Kunstrichtungen zu stammen scheinen, mit Einflüssen aus Expressionismus, Kubismus, dessen Sonderform Orphismus, Futurismus und Surrealismus. Dabei sind intensive und tanzende Farbmuster, kreisende und rhythmische Elemente, Figuren, die sich ins Abstrakte auflösen, charakteristisch und entwickeln eine nahezu atemberaubende Dynamik. Bei derartiger Detailfülle und Rätselhaftigkeit ist am Ende dennoch eine eigenständige Form der Abstraktion sichtbar, ein faszinierender markanter Malstil. Die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie umfasst neben großformatigen Gemälden auch Plakatentwürfe, Bucheinbände und Bühnenbilder, insgesamt etwa fünfzig Arbeiten.
Zwei Jahre nach seiner ersten Ausstellung folgten eine zweite im „Sturm“ sowie eine Ausstellungsbeteiligung in New York. Als Herwarth Walden 1932 Berlin verließ, verlor Wiederhold seine Galerievertretung und gab angesichts der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten schließlich die Malerei gänzlich auf. Seit 1937 und auch nach dem Krieg arbeitete er nur noch als Buchhändler. Ein künstlerischer Neubeginn war ihm nicht vergönnt. So erstreckt sich seine Schaffensperiode lediglich über sechs Jahre. Das Gemälde „Bogenschützen“ gilt heute als sein Hauptwerk. Dessen Erwerb ist für die Neue Nationalgalerie ein großer Gewinn, spiegelt es doch – wie auch andere Arbeiten in der Ausstellung – nicht nur das pulsierende Großstadtleben einer zum Mythos gewordenen Ära wider. Es ist vielmehr die großartige Referenz eines der letzten großen Avantgardkünstlers der Moderne. Dessen Wiederentdeckung ist eine Sensation.
Reinhard Wahren
Information
Sascha Wiederhold. Wiederentdeckung eines vergessenen Künstlers.
Bis 8. Januar 2023 in der Neuen
Nationalgalerie Kulturforum,
Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin