Unscharf, rätselhaft, spannend – Gerhard Richter mit 100 Werken in Berlin

Wichtigstes Werk der Ausstellung ist der aus vier großformatigen, abstrakten Bildern bestehende Zyklus „Birkenau“ aus dem Jahr 2014. Grundlage des Zyklus sind vier Fotografien aus dem KZ Auschwitz-Birkenau, die Richter nach und nach übermalt hat. Mit jeder Farbschicht verschwand die gemalte fotografische Vorlage etwas mehr, bis sie schließlich nicht mehr sichtbar war. Der Zyklus zeigt, wie Richter versucht, in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die Grenzen von dessen Darstellbarkeit aufzuzeigen. Zu dem Werk gehört auch ein großer, vierteiliger Spiegel, der gegenüber den vier Birkenau-Bildern platziert ist und so eine verstärkende Reflexionsebene bietet.

 

Die Ausstellung zeigt erstmals die langfristige
Leihgabe der Gerhard Richter Kunststiftung
an die Neuen Nationalgalerie

 

Seit Beginn der sechziger Jahre ist es vor allem die Malerei, an der Richter unbeirrt festhält, aber immer wieder experimentiert er auch mit Spiegeln und gläsernen Stellwänden, wie beispielsweise mit „4 stehende Scheiben“ bzw. „7 stehende Scheiben“ von 2002, „11 Scheiben“ von 2004 oder „Gestell mit 6 stehenden Scheiben“ von 2002/2011 sowie „Spiegel grau“ von 1991. Die letzten beiden sind in der Ausstellung zu sehen. Man könnte den Vergleich ziehen: So wie eine Skizze mehr Raum für Phantasie lässt, befördert Richter durch die Konfrontation von Bild und Spiegel einen Dialog oder einen Gedanken, wie eben beim Zyklus „Birkenau“. Denn ein Bild allein, so Richter, könne unmöglich die Wahrheit vermitteln.

Neben dem Birkenau-Zyklus werden knapp 90 weitere Arbeiten des Künstlers aus mehreren Schaffensphasen in der Neuen Nationalgalerie zu sehen sein, beispielsweise auch aus der Werkgruppe der übermalten Fotos. Die dabei entstandenen Farbeffekte und die Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Medien Fotografie und Malerei haben Richter dazu angeregt, sich mit dieser außergewöhnlichen Kombination intensiv auseinanderzu setzen und sie zu einer eigenständigen Werkgruppe auszubauen. Dabei entsteht ein außergewöhnliches Wechselspiel zwischen der Fotografie und der Malerei, wobei ihm die Fotografie den perfekten Schein der Realität liefert. „Der Schein ist mein Lebensthema“, schreibt er 1989. Dieses Credo lässt sich auch auf seine „Abstrakten Bilder“ übertragen. Seit 1980 beschäftigt sich Richter mit abstrakten Kompositionen. „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen, noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen können“, schreibt er in einem Text für die documenta 7. Dabei kommt es Richter vor allem auf das Sehen an, auf die Suche nach dem Bild oder das Ereignis hinter dem Bild: „Ein Bild kann uns helfen, etwas zu denken“, so Richter im Jahre 2002. Zwangsläufig ist auch das Deuten von Bildern nicht Richters Sache. Er könne seine Bilder nicht in Worte fassen. Ein Bild, das man erklären müsse, sei kein richtiges Bild.

Die Einordnung seiner Bilder fällt indes schwer. Zu vielschichtig und wechselhaft ist sein gesamtes Werk. So befinden sich unter dem umfangreichen Berliner Konvolut neben Einzelwerken auch seriell angelegte Gemäldereihen aus seinem Spätwerk, wie „4 900 Farben“ von 2007 oder „Strip“, ein Digitaldruck auf Papier von 2013.

Richter deckt bewusst grundsätzlich einen Schleier über all seine Bilder, um die Grenzen der Bildhaftigkeit zu zeigen. Ein Bild könne unmöglich all das ausdrücken, was mit ihm ausgedrückt werden soll. Es bleibt für den Betrachter immer eine gewisse Unschärfe, Rätselhaftigkeit, die über den augenscheinlichen Bildinhalt hinausgeht. Das betrifft auch ihn, den Maler selbst, der dann zum Mittel der Abstraktion greift, um nicht am eigenen Anspruch oder den Grenzen der Darstellbarkeit zu scheitern.

Reinhard Wahren

 

Informationen
Gerhard Richter. 100 Werke für
Berlin 01.04.2023 bis 2026 In der Neuen Nationalgalerie, Kulturforum,
Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin

92 - Frühjahr 2023
Kultur