Eine Entscheidung mit dem letzten Pedaltritt. Riesiger Jubel für Deutschlands Radsportler des Jahres. Ausverkaufte Halle an allen Abenden. Das Berliner Sechstagerennen im Velodrom hat wieder Kultstatus erreicht.
Besser hätte das Finale des 97. Berliner Sechstagerennens kein Filmregisseur in Szene setzen können. Mit dem letzten Pedaltritt fing das Schweizer Paar Bruno Risi und Franco Marvulli am letzten Januar-Dienstag die frenetisch angefeuerten Lokalmatadoren Guido Fulst und Leif Lampater noch ab. Doch keiner der Zuschauer in dem wie jeden Tag ausverkauften Velodrom missgönnte den Eidgenossen den wenige Minuten vor Mitternacht errungenen Sieg. Denn ausgerechnet jener Franco Marvulli trat mit einem Handicap an, das viele andere Sportler vom Start ferngehalten hätte: Der 29-Jährige hatte sich drei Tage vor dem ersten Berliner Auftritt bei der gleichen Veranstaltung in Stuttgart das Kreuzband gerissen. „Man kann ohne Kreuzband nicht richtig laufen, aber sehr gut Rad fahren“, lachte der Züricher, der zu seinen abendlichen Runden mit Krücken auf das Oval gehumpelt kam und ein echter Sieger der Herzen war.
Die Rundenhatz auf der modernen Bahn nahe der Landsberger Allee hat in Berlin wieder jenen Kultstatus erreicht wie zu den denkwürdigen Zeiten im Sportpalast. Eine volle Halle, riesige Stimmung, sportliche Glanztaten und Spannung ohne Ende begeistern die Zuschauer an jedem der sechs Abende. Dazu gehört seit einigen Jahren auch die Ehrung von Deutschlands populärsten Radsportlern, die in diesem Jahr besonderen Applaus fand. Mit Tour-Etappensieger Jens Voigt und der frisch gekürten Cross-Weltmeisterin Hanka Kupfernagel sind zwei ausgesprochene Publikumslieblinge zur Nummer 1 erkoren worden. „Das macht mich besonders stolz, weil hier Fachleute gewählt und mit dem Herzen abgestimmt haben“, sagte der Berliner Gewinner der Deutschlandtour zur Umfrage der Fachzeitschrift „Radsport“.
Das Spektakel Sechstagerennen ist wieder eine erste Adresse in Berlin, ein Begriff, der die Radsportfreunde elektrisiert. Schließlich hat es an der Spree seine deutsche Feuertaufe erlebt. Erfunden wurde das Spektakel vor über 100 Jahren. 1899 fand im New Yorker Madison Square Garden das erste Sechstagerennen für Zweier-Mannschaften statt. Genau zehn Jahre später hat Berlin eine solche Veranstaltung erstmals in Europa auf die Beine gestellt. Hier wurde auch die Fahrer-Wertung dafür erfunden, weshalb man lange von der „Berliner Wertung“ sprach, die den Mannschaften Rundengewinne und bei Sprints Punkte brachte. Damals allerdings waren die sechs Tage weniger unter sportlichen als unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Weil die Rennen wirklich, dem Namen entsprechend, ohne Unterbrechung sechs Tage in Folge verliefen und in dieser Zeit Tag wie Nacht immer ein Fahrer auf der Bahn sein musste, waren die Anstrengungen für die Profis gewaltig.
Als in Deutschland neue Richtlinien kreiert und Mitte der 30er Jahre sogar die Gagen der Fahrer nivelliert wurden, erlahmte das Interesse an einer der beliebtesten Sportveranstaltungen der Stadt. Ausländische Stars winkten ab, die Flut der als „Sixdays“ bezeichneten Rennen ebbte ab und verschwand schließlich ganz aus dem Kalender.
Doch das Publikum wollte ein Sechstagerennen. Radsport war in Berlin ungeheuer populär und nicht mehr nur auf die Sommermonate zu beschränken. Gerade die Bahn mit ihrem unverwechselbaren und unvergleichlichen Fluidum lockte die Fans in Scharen. Deshalb erstanden die Sixdays nicht lange nach dem Krieg wieder auf, und seit 1949 finden auch in Deutschland wieder alljährliche und gut dotierte Rennen in den teilweise auch „Winterbahn“ genannten Arenen statt.
Dabei ist das Programm nicht mehr mit dem aus den Anfangsjahren zu vergleichen. Vergessen ist die Zeit, als die trägen und übermüdeten Profis in den Vormittagsstunden irgendwie auf dem Oval umherlümmelten, und nur in den späten Abendstunden die echten Rundenjagden das Publikum elektrisierten. Heute stehen eine große Vielzahl sportlich anspruchsvoller Wettbewerbe auf der Tagesordnung, das gesamte Rahmenprogramm, das in diesem Jahr auf dem Velodrom insgesamt etwa drei Millionen Euro teuer ist, wird immer wichtiger. Im Mittelpunkt stehen aber weiter die abendlichen Jagden der Zweier-Mannschaften, für die sich im Laufe der Jahre regelrechte Spezialisten-Teams herausgebildet haben.
Gleiches gilt natürlich für die Bahnen, von denen in Deutschland die Arenen von Bremen, Dortmund, Stuttgart und München besonders hoch im Ansehen stehen. Einzigartig aber ist Berlin, die Geburtsstätte des Sechstagerennens in Europa. Die Anfänge fanden noch unter dem Funkturm statt, wo die Amerikaner Floyd MacFarland und Jimmy Morgan 1909 die Siegerkränze umgehängt bekamen. Im legendären Sportpalast war der Kartenandrang manchmal so gewaltig, dass in einigen Jahren zwei Veranstaltungen organisiert werden mussten. Seit 1997 ist das Velodrom Gastgeber für die Rad-Asse aus zahlreichen Ländern. War die Sportstätte nahe der Landsberger Allee seinerzeit gerade noch rechtzeitig für die Veranstaltung fertig geworden, ist der moderne Radsport-Tempel heute ein Prunkstück in der Berliner Sportstätten-Landschaft.
Die 275 Millionen Euro teure Anlage auf einem fast 100 000 Quadratmeter großen Areal ist verkehrstechnisch ideal gelegen. Bei den Sportlern genießt das 250-Meter-Rund aus bester sibirischer Fichte einen guten Ruf und wird keineswegs nur für die eine Woche genutzt. Den Radfahrern steht die Arena aber nur etwa ein Drittel des Jahres zur Verfügung, vorwiegend natürlich zur kalten Jahreszeit als Stätte für Wettkämpfe und Training. Doch hier gab es schon Veranstaltungen, die sich beim Anblick der radelnden Rundenhatz kaum erahnen lassen: hochklassige Reitturniere, komplette Triathlons, Eisrevue, Motorsport und sogar Surf-Wettkämpfe, für die der Hallenboden komplett unter Wasser gesetzt wurde. Daneben finden zahlreiche Konzerte und kulturelle Veranstaltungen im Velodrom statt, das vom französischen Stararchitekten Dominique Perrault so geschickt in die Erde gebaut wurde, dass es in dem Wohngebiet kaum auffällt.
Bei der Eröffnung vor elf Jahren galt das Velodrom, das gemeinsam mit der Max-Schmeling-Halle als „Velomax“ betrieben wird, als architektonische Meisterleistung inmitten einer Großstadt. Mehrere sportliche Höhepunkte verliehen der mit einer Schwimmhalle kombinierten Einrichtung den Ritterschlag. Von den 5800 fest installierten Sitzplätzen unter dem 3500 Tonnen schweren Dach, das sechsmal schwerer als der gesamte Berliner Funkturm ist, verfolgten die Besucher schon zahlreiche Welt- und Europameisterschaften, Tanzshows oder Artistik aus der Zirkuswelt.
Ein bisschen Historie ist ebenfalls bewahrt worden. Das Velodrom steht genau an jener Stelle, wo im damals geteilten Berlin die Sechstagerennen in der „Werner-Seelenbinder-Halle“ ausgetragen wurden. In Erinnerung an jene Kultstätte des Ostens beherbergt die moderne Arena eine Sporthalle gleichen Namens, in der heute vorwiegend Handballspiele oder Volleyball-Vergleiche stattfinden. In dieser Halle kommt der Zuschauer ebenso wie im Velodrom beim Anfeuern der Sportler kaum auf den Gedanken, dass 17 Meter über seinem Kopf 450 Apfelbäume stehen. Das macht diesen Sport-Tempel genauso einmalig wie die alljährlichen Sechstagerennen der Radsportler.
Hans-Christian Moritz