Sie ist eine der ganz Großen. Dabei sind es nicht nur die 55 Jahre Bühnenpräsenz, auf die sie zurückblicken kann. Brigitte Grothums bisheriges Lebenswerk zeichnet sich durch einen Facettenreichtum aus, der seinesgleichen sucht.
Ihr „Engagement als Schauspielerin und Regisseurin sind so vielfältig, dass die Leistungen der Trägerin des Berliner Verdienstordens und des Bundesverdienstkreuzes am Bande hier nur als gekürzte Vita brevis dargestellt werden können“, heißt es auf einer Biografie-Seite im Internet.
Geboren wurde die Tochter eines Ingenieurs und einer Lehrerin am 26. Februar 1935 in Dessau. Sie wuchs in Thüringen und Brandenburg auf, ging ab 1950 in Berlin zur Schule. Zunächst wollte sie Pianistin werden. Bedingt durch den Bruch eines Fingers musste sie diesen Traum jedoch aufgeben. Nach dem Abitur an der Ricarda-Huch-Schule nahm Brigitte Grothum dann Schauspielunterricht bei Marlise Ludwig und Herma Clement und gab bereits 1954 am 4. Dezember im Zimmertheater, einem kleinen Theater in Tempelhof, mit gerade einmal 19 Jahren ihr Bühnendebüt. Auf dem Spielplan: Günther Weisenborns Drama „Die Neuberin“. Unter der Regie von C. B. Maier spielte sie die Tochter des Gottsched – und hatte schreckliches Lampenfieber.
„Das Erstaunliche ist, dass das nie weggeht“, blickt sie auf all die Jahre auf der Bühne und vor Film- und Fernsehkameras zurück. Es sei im Laufe der Zeit eher noch schlimmer geworden, sagt sie und bestätigt damit indirekt Mark Twain, der mit den Worten zitiert wird: „Das menschliche Gehirn ist eine großartige Sache. Es funktioniert vom Moment der Geburt an – bis zum Zeitpunkt, an dem du aufstehst, eine Rede zu halten.“
Doch bei Brigitte Grothum scheint sich das Lampenfieber nur positiv ausgewirkt und all ihre Kräfte mobilisiert zu haben. Jedenfalls entwickelte sie sich nach ihrem Bühnendebüt national wie international zu einer renommierten Charakterdarstellerin, die vor allem nach der Geburt ihrer Kinder in Berliner Theaterhäusern wie dem „Renaissance-Theater“ oder dem „Theater am Kurfürstendamm“, in dem sie 2004 auch ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum beging, zu einer festen und unverzichtbaren Größe wurde. Aber auch in Film und Fernsehen feierte sie große Erfolge und erspielte sich breite Bekannt- und Beliebtheit. Vor der Fernsehkamera spielte sie 1964 denn auch ihre Lieblingsrolle, die sie sich eigentlich für die Bühne gewünscht hätte: Die Julia in Shakespeare‘s „Romeo & Julia“. Viele weitere TV-Engagements folgten. Auf über 200 erfolgreiche Produktionen summieren sich mittlerweile ihre Fernsehauftritte. Aber auch auf der Leinwand glänzte sie an der Seite u.a. von Maximilian Schell, Klaus Kinski oder Horst Buchholz und wirkte auch in einigen der damals so populären Edgar-Wallace-Verfilmungen mit.
„Die Schauspielerei hat sich massiv geändert“, stellt die Wahl-Berlinerin im Rückblick fast schon melancholisch fest. Eine andere Spielkultur macht sie dabei aus, die im Laufe der Jahre alles auf Wohnzimmergröße und -lautstärke reduziert habe: „Das Spielen wurde immer dokumentarischer.“ Gleichzeitig sei der Typus der Rolle zunehmend mehr in den Vordergrund gerückt: „Einmal Kommissar, immer Kommissar“, bringt sie das Phänomen auf den Punkt. Diese Entwicklung habe letztlich auch dazu geführt, dass mittlerweile weniger nach guten Schauspielern als vielmehr nach entsprechenden Typen gesucht werde. „Da muss man höllisch aufpassen, dass man sich nicht verbiegt.“
Eine, die sich nie verbogen habe, ist für Brigitte Grothum ihre am 8. März 2005 in Berlin verstorbene Kollegin Brigitte Mira, mit der sie eine „Kollegialität und Freundschaft verbunden hat, die nicht zu beschreiben ist.“ Eine ganz große Schauspielerin sei sie gewesen, und eine ganz große Entertainerin. Beide, die Mira und die Grothum, prägten 140 Folgen lang bis 1991 die erfolgreiche Serie „Drei Damen vom Grill“ und standen auch danach oftmals gemeinsam vor der Kamera oder auf der Bühne. Einer der letzten gemeinsamen Auftritte war 2004 der im Berliner Dom bei den Jedermann-Festspielen, in denen Brigitte Mira 16 Jahre lang unnachahmlich die Mutter des Jedermann verkörperte.
So eng verbunden sie mit Brigitte Mira war, so eng verbunden ist Brigitte Grothum auch mit eben diesen Jedermann-Festspielen, mit denen sie sich seit 1987 einen Namen als Regisseurin und Produzentin gemacht hat. Inzwischen sind die Festspiele fester Bestandteil des Berliner Theaterkalenders und im Herbst ein gesellschaftliches Ereignis, das nach wie vor Zuschauer in Scharen anzieht und die Kritiker jubeln lässt. Jüngstes Beispiel ist die diesjährige Inszenierung, die mit Katarina Witt als Buhlschaft für weltweite Schlagzeilen sorgte. „Die Erwartungshaltung wird immer größer“, weiß die Regisseurin, die bereits so bekannte Namen wie Mariella Ahrens, Jenny Elvers-Elbertzhagen, Barbara Becker, Sonja Kirchberger, Iris Berben, Judy Winter, Elke Sommer und Ingrid Steeger oder Peter Sattmann, Herbert Feuerstein, Ekkehard Schall, Winfried Glatzeder, Joachim Hansen, Wolfgang Lippert und Georg Preuße verpflichten konnte.
„Das Thema ist aktueller denn je“, ist sich Brigitte Grothum mit Blick auf die Ursachen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise einerseits und auf die Kernaussage des Spiels vom Sterben des reichen Mannes andererseits sicher. Hinzu komme, dass der Egoismus immer größer werde und alle menschlichen Beziehungen überschatte. Wie lange sie den jährlichen Kraftakt, bei dem sie nicht nur für Regie und Produktion verantwortlich zeichnet, sondern auch noch den Glauben verkörpert, weiß sie nicht. „Wenn der liebe Gott es so will“, sagt sie, „schaffe ich noch 2011.“ Dann wären es die 25. Festspiele, und das in dem Jahr, in dem sich die Uraufführung von Hofmannsthals Stück zum 100. Mal jährt.
Warum dieser auf spätmittelalterliche Mysterienspiele zurückgehende Jedermann Brigitte Grothum so am Herzen liegt, wird spätestens klar, wenn sie auf Max Reinhardt, der die Jedermann-Uraufführung 1911 in Berlin inszenierte, und dessen Verständnis von Theater zu sprechen kommt. „Gott hat die Welt erschaffen. Aber der Mensch hat sich eine zweite Welt erschaffen – die Kunst“, war das Credo von Reinhardt, dem sie voll und ganz zustimmt. Die Schauspieler seien selber schuld und hätten den Fehler gemacht, das Geheimnis des Theaters zu lüften und den Menschen den Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen. „Damit war das Mysterium weg“, bedauert die Vollblutschauspielerin. Dabei brauchten die Leute wieder ein Geheimnis. Sie jedenfalls will es ihnen in ihrem Jedermann wieder geben.
Detlef Untermann