Am Ende der Welt

Einsamkeit und pure Natur. Wer die Ruhe und die Welt in ihrer ursprünglichen Form liebt, ist in Island richtig. Doch bietet die nördliche Insel auch gut erschlossene Touristenmagneten.

Am Ende der Welt muss der Mensch mit allen Mitteln um sein Dasein kämpfen. Nichts anderes beweist die kuriose Ausstattung der Touristen, wenn sie die Insel Vigur betreten. Wie eine Prozession von Erstklässlern bewegen sich die Mitteleuropäer über das von Tausenden von Vögeln beherrschte Eiland. Mit bunten Wimpelchen an langen Stöcken wehren sich die Frauen und Männer gegen kreischende Seeküstenschwalben, die zum Schutz ihrer Bodengelege auf die Köpfe der Eindringlinge hacken wollen.
Doch Fremdlinge sind selten auf der von nur fünf Menschen ständig bewohnten Insel in den isländischen Westfjorden. „Sie gehen bitte nur auf den schmalen, ausgewiesenen Pfaden entlang“, mahnt Fremdenführerin Vigdis, denn außer den kreischenden Schwalben sehen die anderen Vögel den Menschen völlig gelassen entgegen. Die Eiderenten, von denen die hier im Fjord Isafjardardjup ansässige Familie ihr Einkommen bezieht, brüten ihre riesigen Eier direkt neben den Pfaden aus. Über 4000 Nester liegen auf der 600 Quadratmeter messenden Insel verstreut. Die Daunen der großen Enten sind die teuersten der Welt. Ein Kilo – dafür muss man 60 Nester leeren – bringt 1.000 Euro. Sammeln kann man die Federn mehrmals im Jahr, vor allem im Herbst. Die Enten sind an die Prozedur gewöhnt, manche verlassen dafür nicht einmal das Nest.
In ihrer ursprünglichsten Form belassen ist die Natur nicht nur auf Vigur, 45 Minuten Fahrt mit einem kleinen Motorschiff entfernt von Isafjördur, der mit knapp 3000 Einwohnern größten Stadt der dünnbesiedelten Westfjorde Islands. Der Tourismus in der Gegend wird absichtlich nicht über die Maßen populär gemacht, denn das Schutzgebiet soll noch möglichst lange sein jetziges Gesicht bewahren. Trotzdem ist die fünfköpfige Familie auf die in den Sommermonaten – im Winter wird es nie richtig hell, deswegen legen keine Schiffe zur Insel ab – bis zu 40 Besucher täglich eingestellt. Im Preis von rund 30 Euro für das Boot und die Erklärungen der Fremdenführerin ist auch ein Kaffeegedeck enthalten. Und von süßem Gebäck verstehen die Isländer eine Menge. Von Kaffee ohnehin. Der wird auch in Gaststätten nach einmaligem Bezahlen immer wieder nachgeschenkt.
Auf Vigur geben die Isländer, genau wie am Vogelfelsen Latrabjarg, die Garantie, dass man zahlreichen Lundis begegnet. Die lustigen Papageientaucher sind die tierischen Maskottchen der nördlichen Insulaner und wahre Tollpatsche. Sie rennen schon mal einen Artgenossen oder einen anderen Vogel über den Haufen. Kaum vorstellbar, dass der putzige kleine Kerl von den Isländern auch gefangen und gegessen wird. Im Gegensatz zu Vigur braucht man in Latrabjarg, dem westlichsten Punkt Europas, keinen Seeschwalben-Abwehrwimpel. Die Nester aller Vögel sind hier in den bis zu 400 Meter über den Atlantik aufragenden Klippen zu Tausenden verborgen. Dafür braucht man zur Anfahrt ein gutes Auto und möglichst schwindelfreie Passagiere. Bis auf wenige Fernverkehrsstraßen gibt es in Island fast ausschließlich Schotterpisten. Und die Zufahrten für einige Sehenswürdigkeiten, wie zum Beispiel Latrabjarg, machen auf Autobahn-erfahrene Mitteleuropäer den Eindruck der Unwegsamkeit. Nicht zu fürchten braucht man sich außerhalb von Reykjavik in Island dagegen vor dem Verkehr. Es gibt keinen. Ein entgegenkommendes Auto erkennt man kilometerweit schon an der sich nähernden Staubwolke.
Wer die ursprüngliche Natur liebt, sich vor längeren Fahrten – Tankstellen findet man auch mal mehrere 100 Kilometer weit nicht – nicht scheut und die sauberste Luft der Erde atmen will, der ist in den Westfjorden Islands richtig. Hier in Isafjordur findet man neben dem ältesten erhaltenen Siedlungskern der Insel auch das Tjöruhusid. In der unmittelbar am Hafen gelegenen urigsten Fischgaststätte des Landes gibt es täglich fünf fangfrische Fischarten im Angebot. Jedes überaus reichliche Gericht wird auf blanken Holztischen in einer Pfanne serviert und kostet umgerechnet 19 Euro.
Einmal auf der Vulkaninsel, sollte der Besucher aber die gängigen Touristenmagnete keinesfalls aussparen. Das Schöne hier ist: Nirgendwo muss man anstehen, und fast alles Bekannte ist in einer Autostunde von der Hauptstadt entfernt zu erreichen. Aus allernächster Nähe kann man den Strokkur fotografieren. Der höchste ständig aktive Geysir spuckt seine Wassersäule mehrfach in der Viertelstunde bis zu 40 Meter hoch in den klaren Himmel. Ein paar Minuten weiter östlich donnern die Wassermassen des Gullfoss zu Tal. Aus mehreren Perspektiven kann man den „Goldfall“ betrachten, der bei schönem Wetter immer einen Regenbogen trägt und wie seine ganze Umgebung die These von der Klimaerwärmung ad absurdum zu führen scheint. Zum Pflichtprogramm gehört ein Bad in der Blauen Lagune, einer der bekanntesten heißen Quellen der Welt auf dem Weg zwischen Reykjavik und dem Flughafen in Keflavik. Natürlich ist ein Bummel durch die Metropole selbst hübsch, vor allem in der Altstadt zwischen dem berühmten Höfdi-Haus und dem Hafen. Hier kann man als Zwischenstation in die Heimat bei Autoverkehr, Einkaufsbummel, Gaststätten- und Cafébesuchen wieder Zivilisation üben. 

Hans-Christian Moritz

 

41 - Winter 2009/10