Von ehrgeizigen Plänen und geplatzten Hoffnungen

Die einstige Stalinallee gilt als eine der bedeutendsten städtebaulichen Leistungen der DDR. Doch auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall weiß die heutige Karl-Marx-Allee noch nicht recht, ob sie Geschichtsdenkmal oder Designmeile sein will.

Gibt es vielleicht zwei Karl-Marx-­Alleen? Nein, gemeint ist nicht die häufige Verwechslung der Karl-Marx-Allee in Friedrichshain mit der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Gemeint ist die Tatsache, dass die Karl-Marx-Allee zwei völlig unterschiedliche Gesichter aufweist – und jeder Flaneur sich entscheiden muss, ob er in dem Boulevard eine überalterte, unter der Last der Geschichte ächzende Protzstraße oder eine aufstrebende, jugendliche Designmeile erkennen will.
Die erste Sicht der Dinge drängt sich im Abschnitt zwischen Strausberger Platz und Weberwiese auf, wo sich auf engstem Raum ein Bestattungsins­ti­tut, ein Sanitätshaus und ein Tier­bestattungsinstitut aneinanderreihen. Dass auf dem breiten Gehweg viele ältere Menschen unterwegs sind, passt ins Bild. Auch der alteingesessene Briefmarkenladen, das Büro einer mobilen Krankenpflege und die nostalgisch anmutende Prager Hopfenstube – Schweinebraten mit Kraut und Knödeln: 7,60 Euro – scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass die beste Zeit der Karl-Marx-Allee vorbei ist.
Oder hat sie im Gegenteil gerade erst begonnen? Dafür sprechen die Galerien, die sich angesiedelt haben, schicke Bars mit Namen wie U5 oder CSA und ein Copy-Service, der 365 Tage im Jahr von 7 bis 24 Uhr ge­öffnet hat. Auch die Wohnun­gen, heißt es, sind besonders bei jungen, kreativ tätigen Menschen begehrt.
Was diese Gruppe besonders anspricht, ist das historische Flair der Karl-Marx-Allee. Denn die Straße, die sich kilometerweit vom Alexanderplatz bis zum Frankfurter Tor erstreckt, steht wie kein anderes bauliches Ensemble für den Wiederaufbauwillen der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg. Die vormalige Große Frankfurter Straße, durch Bomben und den Kampf um Berlin fast völlig zerstört, sollte nach dem Willen der Machthaber des jungen Staates zum Vorzeigeprojekt des sozialistischen Städtebaus werden. Im Abschnitt zwischen Strausberger Platz und Proskauer Straße entstand so in den fünfziger Jahren ein Boulevard, der den Betrachter mit seiner Großzügigkeit noch immer in seinen Bann zieht. Gern wird der Baustil, geprägt durch die Traditionen der klassizistischen preußischen Architektur und der sowjetischen Monumentalarchitektur, als Zuckerbäckerstil bezeichnet; auf jeden Fall haben die mit Keramik-­Kacheln verkleideten Wohnhäuser nichts gemein mit den schmucklosen Nachkriegsbauten, die zur selben Zeit in West-Berlin errichtet wurden.
Doch der Weg zu dieser Architektur war kurvenreich. Zunächst wollten führende Architekten die Allee nämlich in einer am sachlichen Baustil der zwanziger Jahre orientierten Weise wiederaufbauen. Davon zeugen die Laubenganghäuser in der Nähe der Weberwiese, die 1949/50 nach Plänen von Hans Scharoun und Ludmilla Herzenstein entstanden. Die DDR-Oberen verlangten aber eine stärkere Ausrichtung an nationalen Traditio­nen. Den Prototyp dafür schuf Hermann Henselmann 1951/52 mit dem Hochhaus an der Weberwiese. Henselmann verantwortete zusammen mit anderen Architekten auch den Gesamtentwurf für die Allee, zu deren markantesten Bauten die Doppeltürme am Frankfurter Tor und die beiden Hochhäuser am Strausberger Platz zählen.
Für die Bewohner der Häuser wichtiger als das Äußere war der Umstand, dass die Wohnungen mit großzügigen Grundrissen, Aufzug und Müllschlucker einen für die damalige Zeit ungewohnten Komfort aufwiesen. In den Genuss dieses Luxus kamen zum einen Parteikader, zum anderen aber auch Arbeiter und Angestellte, die sich durch die Beteiligung am Wiederaufbau die Berechtigung erar­beitet hatten, an der Verlosung der ­Wohnungen teilzunehmen.
In den Brennpunkt des Weltgeschehens geriet das sozialistische Vorzeigeprojekt, als hier der Volksaufstand des 17. Juni 1953 seinen Ausgang nahm. Im Zuge der Entstalinisierung wurde die Straße 1961 in Karl-Marx-Allee umbenannt. Nach der Wiedervereinigung unterzogen verschiedene Investoren die Blöcke einer aufwendigen Sanierung – offenbar mit Erfolg, können Vermieter heute doch für die Wohnungen eine Kaltmiete von teilweise über sieben Euro pro Quadratmeter durchsetzen. Eine Einkaufsstraße wie zu DDR-Zeiten ist die Karl-Marx-Allee allerdings nicht wieder geworden: Zu breit und zu lang ist sie, um ausreichend Passanten anzulocken, zu ungünstig sind die Zuschnitte der Ladenlokale, um einen wirtschaftlichen Betrieb zu ermöglichen. Zwar versuchte kurz nach der Jahrtausendwende ein Maklerbüro unter dem Slogan „Der längste Tresen Berlins“ eine Wiederbelebung mit Schwerpunkt Gastronomie – doch die scheiterte spätestens, als 2005 das erst wenige Jahre zuvor zum Multiplex aufge­rüstete Traditionskino Kosmos ge­schlossen wurde und die Allee damit ihrer Hauptattraktion verlustig ging.
Auch der Förderverein Karl-Marx-­Allee, der sich für einen touristischen Anziehungspunkt stark machte, hat sich längst wieder aufgelöst. 2008 gab auch noch der Betreiber der traditions­reichen Karl-Marx-Buchhandlung auf.
Eine weitere Attraktion dagegen erblüht zu neuem Leben: Das Café Moskau, zu DDR-Zeiten ein edles Restaurant, ist von der Immobilienfirma von Nicolas Berggruen aufwendig saniert worden und dient jetzt wieder als Ort für Partys und andere Veranstalt­un­gen. Es befindet sich im Abschnitt zwischen Strausberger Platz und Ale­xanderplatz, der später entstand und von Plattenbauten gesäumt ist. Dem Café Moskau gegenüber lädt mit dem 1963 errichteten Kino International eines der schönsten Kinos Berlins zum Besuch ein.
So erzählt die Karl-Marx-Allee viel von deutscher Geschichte und architektonischen Experimenten, von ehrgeizi­gen Ambitionen und geplatzten Hoffnungen. Ein Spaziergang lohnt sich allemal – und wer bei einem Kaffee über seine Eindrücke sinnieren will, dem sei das Café Sibylle empfohlen, das auch eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Straße präsentiert.

Emil Schweizer

 

 

Ausgewählte Adressen

>> Café Sibylle (Traditionscafé mit Ausstellung), Karl-Marx-Allee 72

>> Prager Hopfenstube (günstige böhmische Küche), Karl-Marx-Allee 127

>> Bar CSA (design-orientierte Bar), Karl-Marx-Allee 96

>> Kino International, Karl-Marx-Allee 33

 

41 - Winter 2009/10