Heiße Runden und kühle Getränke

In ganz Deutschland gibt es keine Sportveranstaltung, die auf eine bewegtere Geschichte zurückblicken kann. Die Berliner Sixdays sind von jeher nicht nur ein sportliches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis. Vom 28. Januar bis zum 2. Februar 2010 wird zum 99. Mal ein Berliner Sechstagerennen ausgetragen.

Mit der Nostalgie und dem Pfund der Vergangenheit zu wuchern, das allein würde das Velodrom an der Landsberger Allee nicht mit den alljährlich enthusiastischen Besuchern füllen. Jede Veranstaltung braucht neue Ideen auch neben dem hochklassigen Sport, um Abend für Abend mehrere tausend Zuschauer zu begeistern.
„Es gibt bei uns einen Satz, an dem man alles festmachen könnte: Die Aufenthalts-Qualität muss stimmen“, sagt Reiner Schnorfeil, seit August neuer Geschäftsführer der Berliner 6-Tage-Rennen GmbH. Der Niedersachse, der außerdem eine Sportmarketing-Agentur betreibt, ist seit der Wiederbelebung der Sechstage-Tradition vor 13 Jahren im vereinigten Berlin an der Seite von Veranstalter Heinz Seesing für die passende Außendarstellung zuständig. Dabei müssen völlig andere Kriterien berücksichtigt werden als bei nahezu allen anderen sportlichen Höhepunkten in Berlin und Brandenburg. Ein Fußballspiel dauert eineinhalb Stunden. Dazwischen liegen 15 Minuten Halbzeit. Das reicht gerade für eine Wurst, ein Bier oder einen Kaffee. Handball, Basketball, Eishockey: Die Zeiten um den Sport herum sind mehr als überschaubar. „Wir wollen die Besucher acht Stunden an jedem Tag unterhalten. Um den hochklassigen Sport muss ein Programm gestrickt werden, das den Abend, oder den Tag, aus einem Guss erscheinen lässt“, erklärt der einst auf mehreren Gebieten ausdauernde Sportler Schnorfeil. Berlin als Ursprung der deutschen Sechstage-Historie hat dabei noch die Besonderheit, ein extrem fachkundiges Publikum zu begrüßen. Deshalb gilt es bei der Auswahl der Hallensprecher höchste Sorgfalt bezüglich der Kompetenz walten zu lassen. „Die Fans auf den Rängen schreiben meistens mit und verzeihen dem Ansager keine Fehler“, weiß Schnorfeil.
Doch nicht nur die Radsport-Fans, die seit Jahr und Tag das an der historischen Stätte der alten Werner-Seelenbinder-Halle – hier wurden die Sechstagerennen als „Winterbahn“ im Ostteil der getrennten Stadt abgehalten – entstandene Velodrom füllen, gilt es stundenlang zu unterhalten. In den mehr als 100 Logen wollen sich zahlreiche Geschäftsleute wohlfühlen. Neben Familie und Angehörigen bringen die teilweise hochrangigen Vertreter aus dem Berliner und deutschen Wirtschaftsleben immer zahlreicher Firmenpartner mit. Im Innenraum des Sechstagerennens werden heute mehr Geschäftsabschlüsse angebahnt als auf den Golfplätzen der Umgebung.
„Wir haben aber das gesamte Spektrum unseres Publikums im Blick. Die Fans auf den Rängen wollen zwischen den Runden ihre Bockwurst. Die Gäste im Innenraum können sich in den VIP-Bereich zurückziehen und dort bei einem exklusiven Essen oder einem Cocktail ihre geschäftlichen Gespräche in Ruhe führen und anschließend wieder zum Sport zurückkehren“, sagt Reiner Schnorfeil. Eine Loge für 9.000 Euro klingt zunächst mehr als nobel und keineswegs preiswert. Doch bei täglich zehn Plätzen an sechs Abenden, inmitten erstklassigen Sports und bei Verköstigung sowie abwechslungsreicher kultureller Umrahmung, mutiert das Innenraum-Carrée fast zum Schnäppchen und erweist sich als preiswerter denn ein Abend in irgendeinem der zahlreichen Berliner Nobel-Restaurants. Angenehmer und uriger ohnehin.
Natürlich ist die Vermarktung der sportlichen sechs Tage kein Selbstläufer, und der Sog der Wirtschaftskrise macht auch um den Rad-Zirkus keinen Bogen. Um den Drei-Millionen-Etat für die gesamte Veranstaltung wasserdicht zu machen, wird von der letzten Glocke des vergangenen Sechstagerennen bis zum Beginn der nächsten Veranstaltung gewirbelt. Die Konkurrenz mit der neuen Riesen-Halle am Ostbahnhof ist groß, denn auch dort werden die schicken Logen im Sport-Kultur-Paket offeriert. Ein Vergleich zum Rad-Klassiker verbietet sich aber. Zu unterschiedlich sind dort die Angebote im Gegensatz zur Rundenhatz im Velodrom, dem liebsten sportlichen Kind der Berliner.
Bezüglich der Radprofis muss das Sechstagerennen ohnehin keinen Vergleich fürchten. „Wir haben auch für das 99. die absolute Top-Elite hier versammelt“, verspricht Heinz Seesing. Mit dem für diesen Winter neu zusammengestellten Duo Robert Bartko und Roger Kluge hat der Veranstalter dabei das Zugpferd im doppelten Sinne zeitig unter Vertrag genommen. Der erfahrene Olympiasieger Bartko aus Potsdam und sein junger Partner aus Eisenhüttenstadt gehen dabei als Publikumsliebling, Lokalmatador und Favorit an den Start. Die perfekte Einheit nicht nur im Rennen auf der olympischen 250-Meter-Bahn, wie schon der Erfolg beim Auftakt der Winterserie Ende Oktober in Amsterdam zeigte.
Doch auch Bartko/Kluge fahren nicht acht Stunden täglich um die Bahn und können zusammen mit der hochkarätigen Konkurrenz die Zuschauer allein unterhalten. Das gelingt auch den Stehern, den Sprintern, für die das Herz von Heinz Seesing besonders schnell schlägt, und all den anderen Profis nicht ohne die Abstimmung des Rahmenprogramms.
Das Puzzle aus Sport, Kultur und Show wird jedes Jahr neu zusammengesetzt und verfeinert. Und deshalb liegt zwar die 99. Veranstaltung noch vor uns. Die Organisatoren freuen sich aber über die ersten Logen-Bestellungen für das 100. Rennen im Jahr 2011.

Hans-Christian Moritz

 

41 - Winter 2009/10
Sport