Zur Einrichtung eines typischen Wiener Kaffeehauses gehören seit 150 Jahren neben den Kaffeehaustischen mit Marmorplatten Thonet-Stühle, ohne die die legendäre Wiener Kaffeehauskultur nicht denkbar wäre.
Als im Jahre 1850 die Wiener Kaffeehausbesitzerin Anna Daum beschließt, ihre Biedermeierstühle gegen Stühle der Firma Thonet auszutauschen, nahm sie damit nicht nur wesentlichen Einfluss auf die Wiener Kaffeehauskultur. Sie trug so entscheidend zur Erfolgsgeschichte einer Firma bei, die neun Jahre später mit einem Buchenholzstuhl, der die Nummer 14 trug, den Stuhl der Stühle schlechthin kreierte und damit Weltruhm erlangte.
1819 hatte sich der Tischlermeister Michael Thonet in Boppard am Rhein selbständig gemacht und trat mit „Möbeln aus gebogenem Holz“ hervor. Weil er in Preußen kein Patent für seine Erfindung bekam, übersiedelte er 1842 mit seiner Familie nach Wien und perfektionierte in den folgenden Jahren die von ihm entwickelte Bugholztechnik. Das Verfahren basiert auf einer einfachen Idee: Das für den Stuhl verwendete Holz so geschmeidig zu machen, dass es geformt werden kann. Dazu wird Buchenholz in Schichten verleimt und hoch erhitzt; dann der kreisrunde Sitzrahmen und die Rückenlehne in vorbereiteten Eisenformen gebogen. Auf diese Weise konnten die Einzelteile für einen Stuhl reduziert und vor allem seine Fertigung rationeller gestaltet werden. Die Firma baute schnell ein eigenes Vertriebssystem auf und lieferte Thonet-Stühle in viele große Städte und nach Übersee. Von dort kamen allerdings bald massive Reklamationen, denn in den Ländern mit hoher Luftfeuchtigkeit löste sich der Leim zu Lasten der Standfestigkeit der Stühle. Das war der Grund für Michael Thonet, seine Bugholztechnik erneut weiterzuentwickeln. So wurde das Holz nun unter Dampf gebogen, und an Stelle der verleimten Zapfenverbindungen kamen Schrauben zum Einsatz. Das brachte auch einen enormen Versandvorteil: In eine Transportkiste passten über dreißig zerlegte Stühle, und am Bestimmungsort war die Montage kein Problem.
Die Serienproduktion des neuen Stuhls begann 1859 in der zuvor errichteten Thonet-Möbelfafrik in Koritschan im damaligen Mähren. Als „Sessel Nr. 14“, wie er damals bezeichnet wurde, avancierte er in den folgenden Jahrzehnten zum meistgebauten Stuhl der Welt und gilt heute als das gelungenste Industrieprodukt des 19. Jahrhunderts.
Zur Einrichtung eines typischen Wiener Kaffeehauses gehörten seitdem neben den Kaffeehaustischen mit Marmorplatten Thonet-Stühle, ohne die die legendäre Wiener Kaffeehauskultur nicht denkbar wäre. Deren Blütezeit begann im Fin de Siècle, als berühmte Kaffeehausliteraten wie Alfred Polgar, Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig in Wien Literaturgeschichte schrieben. Das Wiener Kaffeehaus bildet noch heute ein Stück wichtiger Tradition und in etwas veränderter Form werden die Thonet-Stühle noch heute produziert. Allein vom Modell Nr. 14, der legendären Ur-Form, wurden bislang über 60 Millionen Exemplare in alle Welt verkauft. Heute besteht der „Stuhl der Stühle“, der allerdings aktuell die Nr. 214 trägt, aus sechs Teilen, zehn Schrauben und zwei Muttern und kostet etwa 500 Euro. Die unzähligen Plagiate, die es überall auf der Welt gibt, bekommt man freilich billiger.
Weit über 100 000 Stühle verlassen jährlich das Familienunternehmen, heute im nordhessischen Frankenberg angesiedelt und von den Brüdern Claus, Philipp und Peter Thonet in fünfter Generation traditionsbewusst geführt. Zu den legendären Klassikern des Unternehmens gehören ebenso die berühmten Freischwinger. Aber das ist eine andere Thonet-Geschichte.
Reinhard Wahren