Aufbruchzeit

In den zwanzig Jahren seit dem Fall der Mauer hat sich vor allem das Zentrum Berlins grundlegend verändert. In einem Architekturführer zieht jetzt Dorothee Dubrau, die einstige langjährige Baustadträtin von Mitte, Bilanz – und blickt dabei nicht nur auf Potsdamer Platz, Pariser Platz und Friedrichstraße, sondern auch auf die weniger prominenten Ecken von Moabit und Wedding.

Angenommen, ein Tourist besucht erstmals seit zwanzig Jahren Berlin wieder – er würde die Stadt in weiten Teilen nicht wiedererkennen. Seit der deutschen Wiedervereinigung hat sich die Stadt in dramatischem Tempo verändert. Vor allem die Wiederbebauung des Potsdamer Platzes, die Rekonstruktion des Pariser Platzes und die Neubauten an der Friedrichstraße sorgten für heftige Debatten weit über Berlin hinaus. Wo sonst in Europa bot sich schon die Möglichkeit, dass sich eine Stadt gleichsam neu erfinden und sich städtebaulich neu positionieren konnte?
„Es war eine herrliche Zeit. Ich werde sie nie vergessen.“ Das schreibt der Publizist Michael S. Cullen in einem Beitrag in dem jetzt vom Bezirksamt Berlin-Mitte und der ehemaligen Baustadträtin Dorothee Dubrau herausgegebenen „Architekturführer Berlin-Mitte“. Damit spricht Cullen wohl vielen aus dem Herzen, die die aufregende Entwicklung in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit bestimmten. Es war die Zeit, als Investoren um die Filetgrundstücke in zentraler Lage pokerten, als Senatsbaudirektor Hans Stimmann gegen heftigen Widerstand sein Konzept der kritischen Rekonstruktion durchsetzte und als die Planungen von einem ungebremsten Aufstieg Berlins zur Metropole mit fünf Millionen Einwohnern ausgingen. Mittendrin stand die jetzige Herausgeberin des Buches, die 1955 geborene Architektin Dorothee Dubrau, die 1990 als Sprecherin der Bürgerinitiative Luisenstadt auf den Sitz der Baustadträtin von Mitte gespült worden war und dieses Amt (mit einer Unterbrechung zwischen 1996 und 2000) bis ins Jahr 2006 ausübte.
Der Bezirk Mitte war und ist Schauplatz der meisten Großvorhaben der Hauptstadt. Dass Dubrau somit nicht nur Beobachterin ist, sondern auch Handelnde der Berliner Nachwendegeschichte war, macht den Reiz ihres Architekturführers aus. Dabei verzichtet die Herausgeberin weitgehend darauf, die Kämpfe der Vergangenheit wieder aufzunehmen. Stattdessen führt sie dem Leser vor Augen, welch gewaltige bauliche Leistung vor allem in den neunziger Jahren vollbracht wurde. Noch einmal erzählen sie und ihre Autoren, wie die Hochhäuser am Potsdamer Platz in die Höhe wuchsen, wie amerikanische Investoren hochfliegende Pläne für den Checkpoint Charlie vorlegten – die bis heute nicht vollständig realisiert sind – und wie am Pariser Platz um die Frage „Stein- oder Glasfassade“ gestritten wurde. Natürlich fehlen auch neuere Entwicklungen bis hin zur skandalumwitterten Entstehung des Spreedreiecks am Bahnhof Friedrichstraße und zu den Plänen für das Humboldt-Forum auf dem Schlossplatz nicht.
Dabei verhehlt Dubrau nicht, woher sie kommt und welches ihr Grundanliegen als Politikerin war. „Wir wollten unsere Ideale endlich verwirklichen“, schreibt sie im Rückblick auf die frühen neunziger Jahre. „Lebendig sollte die Stadt werden, die historischen Bauten sollten saniert werden – nicht nur die Perlen, sondern auch die normalen Wohngebäude und Büros –, Geschichten sollten sie erzählen. Neue, moderne Häuser sollten entstehen, gemischt mit Wohnungen, Büros, Geschäften, Cafés.“
Dieses Ziel der gemischten Nutzung verfolgte die Baustadträtin auch bei ihren Verhandlungen mit den Investoren. Als großen Erfolg wertet sie es, dass es ihr gelang, gegen heftige Widerstände in den zentralen Neubauprojekten einen mindestens zwanzigprozentigen Wohnanteil durchzusetzen – worüber die Investoren heute übrigens gar nicht so unglücklich sind, da sie gemerkt haben, dass sich die Wohnungen oft leichter als Büros (und fast so teuer) vermieten lassen. Dubrau weist nicht nur auf die spektakulären Großprojekte hin, sondern auch auf die weniger beachteten Ortsteile des Großbezirks Mitte:
Die Industriebauten von Moabit stellt sie ebenso vor wie bemerkenswerte Wohnhäuser in Wedding. Besonders spannend ist das Kapitel über Gebäude, die nach der Wende abgerissen wurden – mit einer bitteren Darstellung der mit dem Abbruch von zwei Baudenkmalen verbundenen Entstehung des Rosmarin-Karrees in der Friedrichstraße, für Dubrau „die größte Sünde, die in Mitte seit 1989 passiert ist“.
Dass es bei der Fülle an Informationen zu einzelnen Fehlern kommt, ist bei einem Werk dieser Größenordnung wohl kaum zu vermeiden. So ist zum Beispiel der Baubeginn für die Wohn- und Hotelbebauung am U-Bahnhof Mendelssohn-Bartholdy-Park nicht offen, sondern schon längst erfolgt, und der architektonische Entwurf für das Projekt Am Zirkus neben dem Berliner Ensemble stammt nicht mehr von Bothe Richter Teherani, sondern von Eike Becker. Gewünscht hätte man sich zudem ein Straßenverzeichnis im Anhang, und auch eine bessere Papierqualität hätte einem Werk dieses Anspruchs gut zu Gesicht gestanden. Doch insgesamt bieten die beiden Bände einen spannenden Einblick in das Zentrum einer Stadt, von der Dorothee Dubrau schreibt: „Eine Metropole wie Berlin lebt von der Vielfalt. Diese muss erhalten und weiterentwickelt werden.“
Paul Munzinger

42 - Frühjahr 2010