Es gibt im schnelllebigen Berlin dieser Tage nicht wirklich viele Menschen, die man kennen muss. Dies gilt auch und gerade für das Regierungsviertel, in dem die Protagonisten immer schneller kommen und gehen.
Politiker, Lobbyisten, Journalisten – die allermeisten haben mittlerweile eine Halbwertszeit, die ihre Telefonnummer im eigenen Notizbuch nicht zwingend erforderlich macht. Eine der wenigen Ausnahmen ist Karl Jüsten, den – so könnte man sagen – der Himmel geschickt hat.
Wenn es bei dem Namen des Prälaten nicht sofort klingeln sollte, hat man nach Meinung wirklich wichtiger Leute in der Hauptstadt einiges falsch gemacht und ziemlich großen Nachholbedarf. Denn der Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe, oder auch Katholisches Büro in Berlin genannt, ist seit genau zehn Jahren bei Vertretern aller Parteien und gesellschaftlichen Strömungen ein ausgesprochen gefragter Gesprächspartner. Dass Jüsten dabei nicht nur um politischen Rat, sondern auch seelischen bzw. geistlichen Beistand gebeten wird, hängt vermutlich, wie er es ausdrückt, mit „meinem menschlichen Angebot, so wie ich bin“ zusammen.
Und wie ist der Mensch Jüsten? „Unkompliziert, kommunikativ, offen“, beschreibt sich der 48-jährige Geistliche, der aus seiner „Glaubensüberzeugung heraus handelt“. Dem ist nicht zu widersprechen, selten stimmen Fremd- und Selbsteinschätzung derart überein. Auch, dass er eher der mitfühlende Seelsorger als der knallharte Manager ist, nimmt man ihm ebenso ab wie die Versicherung: „Wenn ich die Anliegen der katholischen Kirche vertreten soll, kann ich sehr hartnäckig sein.“
Doch nicht nur das, unkonventionell gehört ganz sicher ebenfalls zu seinen Eigenschaften. Jedenfalls ist Jüsten dafür bekannt, dass er selbst bei hoch offiziellen Anlässen mit rotem Helm und blauer Vespa vorfährt. Letztere – Baujahr 1993 – hat, wie er bedauert, „leider den Geist aufgegeben und dient jetzt als Bastelobjekt für den Sohn einer Mitarbeiterin“. Dass es eine neue geben wird, steht außer Frage. „Aber sie muss schneller sein“, umreißt er das Anforderungsprofil, damit er dann auch auf die Stadtautobahn darf.
Die Schublade „rheinische Frohnatur“ indes, in die er immer mal wieder gerne gesteckt wird, wird dem in Siegburg aufgewachsenen Theologen überhaupt nicht gerecht. Dafür sind insbesondere die aktuellen Themen, mit denen es Jüsten zu tun hat, viel zu ernst und viel zu wichtig. Schutz des ungeborenen Lebens, die zeitgemäße Entwicklung des Familienbildes, Stammzellendiskussion, Flüchtlingspolitik, Armutsbekämpfung, die Liste ließe sich fortsetzen. Seine Devise, wenn er die Standpunkte seiner Kirche und seiner Bischöfe vertritt: in der Sache klar, im Ton verbindlich. Diffamierend oder gar herabsetzend, ein solcher Stil käme für ihn nicht in Frage. „Ich möchte auch nicht, dass mit mir so umgegangen wird“, umschreibt er das Sprichwort, das die Goldene Regel wiedergibt: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“
Fragen von Ethik und Moral begleiten den Werdegang Jüstens schon lange. Nach seinem Theologiestudium in Freiburg, Innsbruck und Bonn, der Priesterweihe 1987 und verschiedenen Stationen innerhalb der Kirche promoviert er 1999 mit einer Arbeit über „Ethik und Ethos der Demokratie“ und setzt sich dabei mit den Vor-aussetzungen sittlich verantwortlichen Handelns in einer pluralistischen Gesellschaft auseinander.
Vor dem Hintergrund seiner Wertebasis überrascht es nicht, dass Benedikt XVI. für den Geistlichen „einer der größten Denker unserer Zeit ist“. Was Gesicht und Stimme der katholischen Kirche in Berlin an dem deutschen Papst so fasziniert, ist seine „Bipolarität“. Auf der einen Seite hoch intellektuell, auf der anderen Seite „so menschennah“, wie er auf Grund einiger Begegnungen mit dem Papst aus eigener Erfahrung weiß.
Mehr noch aber dürfte die beiden Kirchenvertreter die Faszination des Glaubensgeheimnisses verbinden. Dabei ist für Jüsten die Frage, an der sich das Christentum entscheiden wird, die, „ob wir Jesus den Menschen nahebringen können und sie sich für ihn begeistern lassen“. Für ihn mache die Auferstehung Christi die Einzigartigkeit des Christentums aus. Zweifel daran plagen den Prälaten da weniger, vielmehr ärgere er sich manchmal über Unzulänglichkeiten der Glaubensgemeinschaft Kirche. Wenn er Heuchelei, Egoismus oder Karrieredenken in der Kirche sehe oder an die Fälle von sexuellem Missbrauch von Schülern am Canisius-Kolleg denke, dann seien das eben solche Augenblicke. Es sei gut, dass die Kirche solche Themen nicht unter den Teppich kehre, sagt er und lobt ausdrücklich das Vorgehen des Kolleg-Leiters und Gymnasium-Rektors, Pater Klaus Mertes. Überrascht habe ihn allerdings die Intensität des Medieninteresses und die ausschließliche Projektion von Missbrauchsfällen auf die katholische Kirche. Ohne damit irgend etwas verharmlosen oder relativieren zu wollen, verweist er darauf, dass es sich angesichts von rund 15 000 jährlich festgestellten Missbrauchsfällen in Deutschland und einer von Experten geschätzten Dunkelziffer von 90% hier um ein gesamt-gesellschaftliches Problem handele.
Nicht zuletzt aus dieser Erkenntnis heraus plädiert Jüsten für Transparenz. Sexualität gehöre wesentlich zum Menschsein. In der öffentlichen Debatte, aber auch im Leben der Menschen habe die katholische Kirche als Orientierungsinstanz an Terrain verloren. Dass Sexualität etwas Heiliges sei, Ausdruck der Liebe zwischen Mann und Frau, hielten heute viele für weltfremd. Die Kirche sollte – auch angesichts der Missbrauchsfälle – offen, angstfrei und kenntnisreich ihre Auffassung von Sexualität bedenken und – wo nötig – aktualisieren.
Anders als viele andere Priester antwortet Jüsten auf die Frage, ob er denn bei einem Wegfall des Zölibats heiraten würde, nicht gleich spontan mit Ja, sondern eher differenziert: „Wenn dann die richtige Frau da ist ...“ und lacht verschmitzt in seiner ihm eigenen Art. Ernsthaft fügt er hinzu: „Das Zölibatsversprechen habe ich freiwillig abgelegt, es gilt auch ohne kirchenrechtliche Verpflichtung fort.“
Hoffentlich bleibt Jüsten Berlin noch lange erhalten. Denn so eine verlässliche (Werte-)Konstante kann in dem unsteten Treiben rund um Parlament und Regierung sicher nicht schaden.
Detlef Untermann