Von Gandhi lernte er den Lotussitz. Heute ist Narendra Jain der dienstälteste Yogi Berlins
Für Yoga-Jünger ist Berlin ein Paradies: Es gibt so viele Studios, dass man leicht den Überblick verlieren kann. Und jede Woche kommen neue hinzu. Wir trafen den dienstältesten Yogi Berlins – Narendra Jain ist 73 Jahre alt und macht seit fast 70 Jahren Yoga, seit über 40 Jahren unterrichtet er in Berlin.
Ein Gespräch mit Narendra Jain ist wie eine Reise in eine andere, stresslose, irgendwie bessere Welt. Vor 73 Jahren wurde er in Neu-Delhi geboren, 1967 kam er als Kunststudent nach Berlin, verliebte sich in eine deutsche Lehrerin und blieb. Als er die ersten Kurse an Volkshochschulen gab, wurde er belächelt. Kopfstand! Kobra! Herabschauender Hund! – So ein Unsinn, sagten viele und lachten den Inder aus. Der behielt seinen Humor, lächelte und machte weiterhin Kopfstand, Kobra und den herabschauenden Hund. Millionen Inder und immer mehr Menschen in der westlichen Welt können vermutlich nicht seit mehr als 3000 Jahren irren. Und lange bevor hierzulande in den vergangenen Jahren ein beeindruckender Yoga-Boom einsetzte, lehrte Narendra Jain die alte Kunst; tausenden Schülern hat er die Faszination der Asanas (Haltung, Stellung) beigebracht.
Ohne Schnickschnack. Bei ihm gibt‘s Yoga pur, sozusagen. Wie in Indien. Sein Charlottenburger Studio in der Herschelstraße ist eine helle, freundliche Erdgeschosswohnung, an den Wänden hängen wunderbare Bilder, die er selbst gemalt hat. Hierher kommt niemand, der sein neues Outfit präsentieren will. Man könnte es hier wie die Inder machen, die gehen zum Yoga wie unsereins mit Freunden ins Kaffeehaus, geübt wird dort in (lockerer) Straßenkleidung, denn viele Menschen in Indien haben überhaupt kein Geld für Yoga-Mode.
Narendra Jains erster Yoga-Lehrer war Mahatma Gandhi. „Mein Vater, ein Rechtsanwalt, war einer seiner
politischen Mitstreiter. Als ich fünf Jahre alt war, nahm er mich zu einem Kongress mit.“ Der Junge war unruhig und wollte nicht stillsitzen. Da kam Gandhi und zeigte ihm lächelnd den Lotussitz. „Ich war so begeistert, dass ich zwei Stunden stillsitzen blieb“, erinnert sich Narendra Jain lächelnd. Der Zauber war entfacht. „Meine Mutter hat mit mir als Kind Yoga geübt.“ Im Laufe seines Lebens hat er rund 70 000 Menschen den Zauber des Yoga gezeigt, darunter Hollywood-Schauspielerin Ali MacGraw, die in den 70er Jahren in Berlin einen Film drehte. Heute bildet er Lehrer aus, offeriert Lebensberatung und hält drei Kurse wöchentlich ab, auch Einzelunterricht ist möglich. Wer ihm eine E-Mail schickt, wird vermutlich keine Antwort erhalten. Nicht, dass Narendra Jain unhöflich wäre, im Gegenteil. Aber E-Mails und Yogi, das passt aus seiner Sicht irgendwie nicht zusammen. Und vermutlich hat er für diesen neumodischen Quatsch auch keine Zeit. Er steht früh auf, meditiert zwischen vier und sechs Uhr morgens, danach arbeitet er in seiner Schule. Wer mit ihm in Kontakt treten möchte, kann ihn vor den Kursen zwischen 17 und 18 Uhr anrufen, dann hält er Telefon-Sprechstunde.
„Wir machen hier kein Fitnessstudio-Yoga“, sagt der Yogi und lächelt. Bei ihm praktiziert man in eineinhalb Stunden alle Elemente, die Yoga ausmachen: Asanas (Körperübungen), Atemübungen und Meditation – Letzteres wird in den Yoga-Studios gern „vergessen“ oder bestenfalls halbherzig ein paar Minuten lang gemacht. Aber so ist das beim Yoga: Jeder findet seinen Platz. Der eine sucht vielleicht nur die Asanas und lehnt Meditation ab, der andere möchte die hohe Kunst der Atemübungen verinnerlichen. Wichtig ist, dass man sich wohlfühlt. In seinem Körper und in seinem Studio, da hilft nur Ausprobieren.
Das Wort Yoga hat seinen Ursprung im Sanskrit, es bedeutet das „Anschirren“ oder „Anjochen“ von Zugtieren vor einen Wagen. Die Idee von Yoga ist, die menschlichen Sinne und Triebe an den „Wagen des Geistes“ anzujochen, um den Menschen zur Vollkommenheit zu führen. Klingt groß und ist dennoch zugleich eine Idee der kleinen Schritte. Zuerst steht man ein wenig hilflos vor den Fotos, auf denen durchtrainierte
Yogis und Yoginis atemberaubende Übungen vollführen. Jetzt nicht entmutigen lassen! Wer brav übt, wird den Tag nicht vergessen, an dem er zum ersten Mal schwierige Asanas wie die „Krähe“ oder den perfekten Lotussitz (Padmasana) tadellos hinbekommen hat.
Es gibt in Berlin so viele Kurse, dass man wunderbar Tag und Nacht, sieben Tage die Woche, Yoga machen könnte. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber schätzungsweise gibt es rund 200 seriöse Studios aller Größen, dazu kommt ein unüberschaubares Heer von Privatlehrern. Es gibt Lach-Yoga, Kurse für Schwangere, Kinder, prä- und postnatale Stunden, Angebote für Menschen über 55, für Frauen mit Hormonschwankungen. Wer an Schlaflosigkeit leidet, geht vielleicht zum „Mondschein-Yoga“. Weiter im Stundenplan: Kurse für Übergewichtige, Gestresste oder für Menschen, die bei Temperaturen um 38 Grad üben möchten. Das heißt „Bikram“-Yoga und soll besonders anstrengend, aber auch besonders wohltuend für Gelenke und Muskeln sein. Und wer lieber alleine und ohne zeitliche Bindung übt, der abonniert den Online-Kurs.
Eine Berlinerin erfand den weltweit wichtigsten Tag für Yoga-Jünger: Am „Welt-Yoga-Tag“ verbiegen sich Menschen in aller Welt für einen guten Zweck. Die Regisseurin Samira Radsi hatte die Idee, bei der an einem Tag im Jahr Menschen in aller Welt zeitgleich Yoga machen und Geld für jene spenden, denen es nicht so gut geht. Ein Yoga-Marathon des guten Willens, in diesem Jahr kamen 27.000 Euro zusammen, die an „Ärzte ohne Grenzen“ gespendet wurden. Der nächste Welt-Yoga-Tag findet am 30. Januar 2011 statt. Zeit genug, die Krähe, den Hund und die Kobra zu üben.
Silvia Meixner