Sozialer Brennpunkt, Multikulti-Kiez, Mekka der Oldtimerfreunde, Wallfahrtsort der Architektur-Enthusiasten, traditionelles Arbeiterviertel: Der Stadtteil Moabit ist vielfältiger als sein Ruf – und hat möglicherweise dank einer alten Markthalle bald eine weitere Attraktion zu bieten.
Moabit? Da rümpfen viele Berliner die Nase. Das alte Arbeiterviertel hat nicht den besten Ruf, und ein Spaziergang trägt erst einmal nicht dazu bei, die Vorurteile abzubauen. Auf dem Gehweg der Turmstraße zum Beispiel steht fast unbeweglich ein Mann, vor sich einen Bauchladen mit Batterien und Elektrokrimskrams, und wartet geduldig auf Kunden, während in der Perleberger Straße eine Motorrad-Formation aus fünf Rockern um die Ecke kurvt. Derweil haben sich direkt vor dem Eingang der Arminius-Markthalle einige Herren, ausgestattet mit einem beachtlichen Vorrat an Bierflaschen, häuslich auf dem Gehweg niedergelassen.
Dass diese Eindrücke aber nicht die ganze Wahrheit über Moabit widerspiegeln, zeigt gerade die Arminius-Markthalle. Vor fast 120 Jahren von Stadtbaurat Hermann Blankenstein errichtet, soll sie jetzt ein Zeichen setzen, dass sich Moabit verändert. Im Sommer übernahm Die Zunft AG aus dem rheinland-pfälzischen Wachenheim die ehrwürdige Immobilie im Erbbaurecht von der Berliner Großmarkt GmbH. „Die Arminius-Markthalle“, sagt Kira Hinderfeld, Vorstand des neuen Betreibers, „soll ein kommunikativer Ort werden, an dem sich junges Design, kreative Milieus und Dienstleistungen, regionale Manufakturen, Gastronomie und Events ergänzen.“
Der architektonisch schönen, doch zuletzt von Ramschständen geprägten Halle ist es gewiss zu wünschen, dass das Konzept aufgeht. Eine gewisse Skepsis ist indes angebracht: Zum einen scheiterte Die Zunft AG schon einmal mit einem ganz ähnlichen Projekt – vor einigen Jahren kündigte sie an, die Rinderauktionshalle auf dem Alten Schlachthof zur Manufakturenhalle umzugestalten, ohne den Worten Taten folgen zu lassen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob der Sinn der Anwohner wirklich nach biologischen Äpfeln aus Brandenburg, feinstem toskanischen Olivenöl und handgetöpferten Espressotassen steht. Denn nach einer Untersuchung von Topos Stadtforschung geht von den 15- bis 64-jährigen Kiezbewohnern nur jeder Zweite einer Erwerbstätigkeit nach, und die Hälfte der Einwohner von Moabit-West hat einen Migrationshintergrund.
Allerdings: Schon einmal hat eine unerwartete Nutzungsidee in Moabit überraschend gut funktioniert. 2003 sanierten zwei Immobilienfachleute ein ehemaliges Straßenbahndepot in der Wiebestraße und machten es unter dem Namen Meilenwerk zu einem Oldtimerzentrum. Dort lassen jetzt die Besitzer historischer Karossen ihre Lieblinge warten, und wer Glück hat, kann beobachten, wie die Oldtimer durch die Moabiter Industriekulisse rollen.
Denn die Industrie ist es, die den Stadtteil seit dem 19. Jahrhundert prägt. Besonders deutlich ist das an der Hutten-/Ecke Berlichingenstraße, wo die 1908/09 von Peter Behrens für die AEG errichtete Turbinenhalle steht. „Ein Schlüsselwerk der Industriearchitektur des 20. Jahrhunderts“ nennt ein Architekturführer das Bauwerk, das damals in aufsehenerregender Modernität aus Eisen, Glas und Beton konstruiert wurde. Besonders bemerkenswert: Bis heute dient die Halle ihrem ursprünglichen Zweck, nämlich der Herstellung von Gasturbinen – jetzt allerdings unter der Ägide von Siemens.
Zweiter großer Industriekonzern in diesem westlichen Teil Moabits war neben AEG die Maschinen- und Waffenfabrik Loewe; an sie erinnern schräg gegenüber der Turbinenhalle die Ludwig-Loewe-Höfe, die heute als Gewerbekomplex genutzt werden. Noch früher, nämlich 1847-49, hatte August Borsig im östlichen Teil Moabits, zwischen Alt-Moabit und der Spree, ein Eisenwalzwerk errichtet, in dem später bis zu 2 000 Menschen arbeiteten. Die Borsig-Fabrik ist ebenso Vergangenheit wie die Meierei Bolle, die Berlin mit frischer Milch versorgte. Auf ihrem Grundstück steht heute der riesige Bürokomplex, in dem das Bundesinnenministerium seinen Sitz hat.
Nachdem die Borsig-Werke Ende des 19. Jahrhunderts nach Tegel verlegt worden waren, kauften Terraingesellschaften das vormalige Industrieareal auf. Dort entstanden in der Folge teilweise hochherrschaftliche Häuser, die sich deutlich von den einfachen Arbeiterunterkünften nördlich der Turmstraße unterscheiden. Sehr repräsentativ sind beispielsweise die Wohngebäude in der Thomasiusstraße 4 und 5. Die Teilung in einen ärmeren nördlichen und einen wohlhabenderen südlicheren Teil prägt Moabit bis heute – doch das soll sich ändern: Bis 2025 stehen für Aufwertungsmaßnahmen fast 27 Mio. Euro aus dem Bund-Länder-Programm „Aktive Stadtzentren“ zur Verfügung. Eine der ersten Maßnahmen sieht vor, den Kleinen Tiergarten und den Ottopark umzugestalten und so für mehr Aufenthaltsqualität zu sorgen.
Auch immer mehr Investoren glauben an das Potential von Moabit. Zwischen Stephan-, Birken- und Havelberger Straße, wo sich einst die Fabrik eines für seine Werbesprüche („Gar furchtbar schimpft der Opapa: Die Oma hat kein Paech-Brot da“) bekannten Großbäckers befand, entsteht derzeit ein großer Neubau mit einem Supermarkt und einem Hostel. Gebaut werden sollte eigentlich auch schon längst an der Stromstraße. Aus der dortigen denkmalgeschützten Schultheiss-Brauerei möchte ein Investor aus Münster ein Einkaufszentrum machen; doch der Baubeginn hat sich immer wieder verzögert. Dabei bräuchte die Turmstraße dringend eine Belebung, vor allem, seit das als Magnet fungierende Hertie-Kaufhaus im August 2009 geschlossen wurde. Geprägt ist die Turmstraße jetzt von Discountern, Ein-Euro-Geschäften und zahlreichen kleinen Läden, die mit ihrem Angebot aus libanesischen Süßigkeiten, türkischem Schmuck und asiatischem Fast-Food zwar kosmopolitisches Flair ausstrahlen, aber auch häufige Betreiberwechsel durchmachen.
Trotzdem erscheint es so unwahrscheinlich nicht, dass die Gegend um die Turmstraße an Attraktivität gewinnen wird: Schließlich befinden sich der Hauptbahnhof und der geplante neue Stadtteil Europacity nur etwa eineinhalb Kilometer entfernt. Vielleicht wird also das hochwertige Angebot in der Arminius-Markthalle eines Tages tatsächlich auf dankbare Abnehmer stoßen.
Emil Schweizer