Genossenschaft versus Kommerz

Vor 15 Jahren gründete sich eine Genossenschaft mit dem Ziel, einen heruntergekommenen Gewerbehof in Prenzlauer Berg dauerhaft als Wirtschaftsstandort zu sichern. Mittlerweile ist die Genossenschaft Eigentümerin der geschichtsträchtigen Anlage – und blickt auf eine verblüffende Erfolgsgeschichte zurück.

Galerien im Erdgeschoss, schicke Restaurants, im Keller einen angesagten Club, ferner hochpreisige Büros für kreative Unternehmen und natürlich Loftwohnungen für urbane Kosmopoliten. Davon können Projektentwickler im Szenebezirk Prenzlauer Berg angesichts des „Gewerbehofs in der Alten Königstadt“ nur träumen. Das geschichtsträchtige Areal an der Saarbrücker Straße ist längst vergeben. Und zwar an eine Genossenschaft, für die Renditemaximierung ein Fremdwort ist und die Flächen auf dem Filetgrundstück zu niedrigen Mieten an einen Tischler, einen Geigenbauer, eine Druckerei und andere ganz normale Gewerbetreibende vermietet.
So ist der Gewerbehof an der Saarbrücker Straße zu einem Alternativmodell im immer stärker von Kommerz geprägten Prenzlauer Berg geworden. Und nicht nur dort: „Uns ist deutschlandweit kein anderes Beispiel bekannt, wo es gelungen ist, aus dem Bestand einen Gewerbehof auf genossenschaftlicher Basis zu entwickeln“, sagt Klaus Lemmnitz, Vorstandsvorsitzender der Genossenschaft „Gewerbehof Saarbrücker Straße e.G.“. Lemmnitz ist maßgeblich an der erstaunlichen Nachwendegeschichte des Areals beteiligt. Denn 1993 siedelte sich der Unternehmer in Sachen Automaten als einer der ersten auf dem ehemaligen Brauereigelände an. Wilde Zeiten waren das: Tänzerinnen nutzten schon mal die alten Gemäuer für eine Performance, bei der sie sich, wenn die Erinnerung nicht trügt, immer wieder enthusiastisch in einen Wasserbottich stürzten, um anschließend halsbrecherische Klettertouren an den Wänden zu unternehmen – mitten im Winter und in einem ungeheizten Saal.
Nachdem sich immer mehr Gewerbetreibende in dem Komplex angesiedelt hatten, schlossen sie sich 1995 zu einer Genossenschaft zusammen. 2003 dann gelang es ihnen dank geschickter Kontaktpflege zu Politikern und der Unterstützung durch die Berliner Volksbank, den Gewerbehof für eine Million Euro vom landeseigenen Liegenschaftsfonds zu erwerben. Seither hat sich der Gewerbehof ständig weiterentwickelt. Während 2003 rund 80 Personen auf dem Areal arbeiteten, sind es heute um die 250 – teils Beschäftigte von Großunternehmen wie der Werbeberatungsfirma Dinamix, teils Ein-Mann-Betriebe. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie Mitglied der Genossenschaft sind. Das bedeutet, dass sie Geschäftsanteile erwerben müssen, dafür aber von günstigen Mieten profitieren: Produktionsflächen kosten (abhängig vom Ausbaustandard) ab 4,50 Euro pro Quadratmeter und Monat, Büros ab 7,50 Euro. Dass die 8 500 zur Verfügung stehenden Quadratmeter voll belegt sind, erstaunt angesichts dieses Mietniveaus nicht.
Bisher hat die Genossenschaft drei der fünf denkmalgeschützten Gebäude saniert. „Dabei streben wir keine Picobello-Sanierung an“, sagt Architekt Stefan Klinkenberg, der die Genossenschaft auch bei der Entwicklung und Verwaltung des Gewerbehofs berät. „Die Geschichte ist Teil der Identität, welche die Leute hier suchen.“ Deshalb sollen die historischen Spuren erhalten bleiben – und die sind spannend genug. Der Gewerbehof geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als sich am Prenzlauer Berg zahlreiche Brauereien ansiedelten. Die 1851 gegründete Königstadt-Brauerei war mit ihrem untergärigen bayerischen Bier eine der größten. Ab 1880 entstanden die noch heute erhaltenen Produktionsgebäude; der riesige Ausschankbereich an der Schönhauser Allee ist dagegen nicht mehr erhalten.
Nachdem die Brauerei 1921 die Bierproduktion eingestellt hatte, erlebte das Areal fast jede denkbare Nutzung: Die Ausschankhalle wurde zu einem Uraufführungskino umfunktioniert; in den Kellern schufteten im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiterinnen für die Firma Telefunken; später wuchsen hier Champignons, das „Neue Deutschland“ wurde gedruckt, und das ehemalige Lagerhaus nahm den Fuhrpark des Ost-Berliner Magistrats auf.
Dass die historische Patina erhalten bleibt, bedeutet indes nicht den Verzicht auf zeitgemäßen Komfort. Das zeigen das aufwendige Treppenhaus und der moderne Aufzug im Haus B, das mit seinem Blick über die Stadt wohl das attraktivste Objekt des ganzen Komplexes ist. Bewusst setzt sich damit die Genossenschaft von anderen Gewerbehöfen ab: Es gelte, so Architekt Klinkenberg, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Nutzer gerecht zu werden – und manche hätten eben auch schon Gäste wie Bundesbildungsministerin Annette Schavan oder den Bürgermeister von Jalta empfangen.
Rund 6,5 Millionen Euro hat die Genossenschaft bisher in die Sanierung investiert, 14 Millionen Euro sollen es insgesamt werden. Bereits nächstes Jahr ist die Modernisierung des ehemaligen Flaschenkellers (Haus D) geplant. Zudem soll in den ehemaligen Brauereikellern eine Tiefgarage mit 58 Autostellplätzen entstehen. Offen ist dagegen, ob und wann der seit langem geplante Neubau an der Straßburger Straße errichtet wird. Das damit verbundene wirtschaftliche Risiko wird in der Genossenschaft durchaus unterschiedlich eingeschätzt: Während sich manche der 43 Mitglieder für einen Verzicht aussprechen, könnte sich Architekt Klinkenberg vorstellen, den Neubau in Erbbaupacht an einen Großnutzer zu vergeben, der dann selbst das Risiko tragen müsste. Fest aber steht, dass vom genossenschaftlichen Grundgedanken nicht abgerückt wird: „Ich wünsche mir für die Zukunft“, sagt Vorstand Klaus Lemmnitz, „dass wir eine starke Genossenschaft mit untereinander gut vernetzten Mitgliedern sind, die soziale Tupfer über die Genossenschaft hinaus setzt.“

Paul Munzinger

Buchtipp
Martin Albrecht, Stefan Klinkenberg:Die Brauerei Königstadt.
Industriegeschichte in Berlin-Prenzlauer Berg
208 Seiten, 142 Abb. s/w, 147 Abb.
Farbe, 9 Karten, Festeinband
ISBN 978-3-86153-605-5
29,90 Euro

44 - Herbst 2010