Vor 100 Jahren wurde in Berlin „Der Sturm“ gegründet
Der Name war Programm. Ein Sturm sollte durch die Kunstszene wehen und der Avantgarde mit Macht zum Durchbruch verhelfen. Der im Kaiserreich vorherrschende Geschmack würde hinweggefegt werden, und wo, wenn nicht in der jungen aufstrebenden deutschen Hauptstadt konnte das möglich sein. Hauptinitiator war der aus einer jüdischen Arztfamilie stammende Herwarth Walden, der ursprünglich als Pianist und Komponist hervorgetreten und mit der Dichterin Else Lasker-Schüler verheiratet war.
In ihrer gemeinsamen Wohnung in der Katharinenstraße in Wilmersdorf wurde „Der Sturm“ im Frühjahr 1910 ins Leben gerufen. Anfänglich handelte es sich nur um eine Zeitschrift, die wöchentlich, später vierzehntäglich erschien. Zusammen mit der „Aktion“ von Franz Pfemfert war „Der Sturm“ das Sprachrohr der expressionistischen Künstlergeneration. Er kam auf eine beachtliche Auflage von bis zu 30 000 Exemplaren. Nach dem Willen seiner Gründer sollte er kulturell eine reinigende vitale Kraft entfalten. Freundschaft wurde zelebriert. Man gab sich pluralistisch und international. Als der 32-jährige Walden seine wegweisende Zeitschrift herausgab, war er im Kunstbetrieb bereits gut vernetzt, kannte Künstler der verschiedenen Gattungen und hatte Erfahrungen mit Zeitschriftenprojekten gesammelt. Zu den literarischen Mitarbeitern zählten unter anderem Alfred Döblin, Anatole France, Karl Kraus und natürlich Else Lasker-Schüler. Der Maler Oskar Kokoschka drückte dem Vorhaben von Beginn an seinen künstlerischen Stempel auf. In jeder Nummer des ersten Jahrgangs war er mit Grafiken vertreten. 1912 wurde das Futuristische Manifest im Sturm publiziert. Filippo Tommaso Marinetti fordert im ersten Paragraphen: „Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit.“
Kurze Zeit später fand in Waldens neu gegründeter „Sturm-Galerie“ in der Tiergartenstraße 34a die erste Futurismus-Ausstellung in Deutschland statt. Marinetti soll aus diesem Anlass im offenen Wagen durch die Leipziger Straße gefahren sein, Flugblätter geworfen und gerufen haben: „Es lebe der Futurismus.“
Europäische Bedeutung erlangte die Galerie durch den Ersten Deutschen Herbstsalon 1913. Er gilt als deutschlandweit größte Ausstellung avantgardistischer Kunst vor dem Ersten Weltkrieg. Die Maler der Gruppe des Blauen Reiter bildeten den Hauptteil der Exposition. August Macke und Franz Marc nahmen die Hängung vor. Aus Frankreich waren bedeutende Werke Henri Rousseaus, Fernand Légers und Robert Delaunays zu sehen. In der Presse indes schlug der Ausstellung erbitterter Hass entgegen. Robert Breuer bezeichnete im Vorwärts die Künstler gar als „Hottentotten im Oberhemd, eine Horde farbenspritzender Brüllaffen“.
Interessanterweise erlebte Der Sturm während des Ersten Weltkriegs keinerlei Einbruch, ganz im Gegenteil. Er entwickelte sich zum vielgestaltigen Kunst-Unternehmen, dem Walden immer wieder neue Betätigungsfelder erschloss. So kamen 1916/17 eine Sturm-Kunstschule sowie eine Sturm-Bühne hinzu. Innovative Ideen vom „Bühnenkunstwerk“ wurden hier gelehrt und umgesetzt.
Obwohl mehrere seiner Mitstreiter im Krieg fielen, verhielt sich der Sturm-Gründer Walden politisch bewusst zurückhaltend. Die Kunst war ihm alles.
Nach dem Ersten Weltkrieg sank der Stern des Sturm. Die avantgardistische Kunst hatte sich endgültig durchgesetzt und bedurfte nicht mehr eines engagierten Fürsprechers. Der Sturm seinerseits war Geschichte geworden. 1926 verkaufte Herwarth Walden sein Archiv an die damalige Preußische Staatsbibliothek zu Berlin, wo es sich noch heute befindet. Herwarth Walden selbst emigrierte kurz vor der Machtübernahme Hitlers in die Sowjetunion und kam 1941 in einem stalinistischen Gefängnis um.
Karen Schröder