Der Schreibtisch als Designobjekt und Arbeitslandschaft
Räume ohne Schreibtische wirken unvollständig. Der erste Schreibtisch, der sich mir einprägte, vermittelte Akribie, verbarg Rätsel und durfte nicht ohne weiteres in Besitz genommen werden. Es war ein etwas düster wirkendes Exemplar von Richard Riemerschmid aus den Dresdner Werkstätten (um 1905) mit säulenartigen Seitenfächern. Auf der schlichten Platte fanden sich ein Fässchen mit harpunenspitzen Stiften, dazu Füller, Tintenfass und Löschpapier nebst Reiseschreibmaschine. Der Großvaterschreibtisch. Ein Bild aus dem vorigen Jahrhundert.
Der Bogen zum kuscheligen Schreibalkoven der „Netgeneration“, die für Grüße an Freunde ebenso wenig Briefpapier benötigt wie für ein Firmenanschreiben und schon gar nicht mehr acht Stunden an einer Tischkante festgesetzt sein will, könnte kaum größer sein. Die Kölner Büromöbelmesse Orgatec offerierte Arbeitsnester, textile Mini-Abteile mit Stahlrohrfüßen wie das Schreibgehäuse „Alcove Work“ (2010) von Vitra. Es bietet außer Platz für den Laptop und sorgsam weggeführten Kabeln vor allem die Qualität eines Refugiums im multifunktionalen Office. Was beide verbindet, ist die Doppelfunktion: Der Schreibtisch ist sowohl Möbel als auch Ort. Er ist bislang zumindest der privateste Platz, selbst wenn er im Großraumbüro steht. Hier sitzt, denkt, notiert, telefoniert in der Regel nur einer. Zumeist gibt es eine fühlbare Bannmeile.
In der Villa Harteneck. Schreibtisch „Ernest“ von Romeo Sozzi, der komplett mit Leder bezogen ist. Dazu ein 250 Jahre alter Kolonialstuhl aus Indonesien [Foto: Mark Seelen]
Kaum ein anderes Möbel wird von seiner Inbesitznahme, von Arbeitsaufgabe, Temperament und Kultur so sehr verändert wie der Schreibtisch. Die „Landschaft“ obenauf kommuniziert positiv mit dem Design, kann es aber auch regelrecht verschütten. Die Manuskriptberge eines Redakteurs oder die Katalogsammlung eines Einrichtungsberaters können alpine Topographien annehmen, derweil Minimalisten allmorgendlich den lupenreinen Arbeitstisch bevorzugen und konzentrierte Pragmatiker wie die Verlegerin Nora Pester (Hentrich & Hentrich) kaum mehr als Stift, Laptop und Headset für Telefonkorrekturen benötigen. Die Center-Managerin Sylvia Nielius vom Stilwerk Berlin arbeitet hoch oben und mit Blick über Rosen und Lavendel. Auch hier findet man nichts Verkramtes, dafür gleich zwei Schreibtischlampen, unter deren Lichtzelt Ideen wie im Gewächshaus reifen. Die eleganten italienischen Lederschreibtische aus der Villa Harteneck – so Inhaber Frank Stüve – setzt man lieber gleich zweckentfremdet ein, etwa für eine Sammlung von Familienfotos.
Stilisten fragen sich vielleicht: Maus auf Glas oder Federhalter auf Kirsche? Opulenz oder Schlichtheit? Designer müssen überlegen, wie sich entgrenzte Arbeitszeit, Wohlfühlaspekte und Nachhaltigkeit technologisch innovativ in eine signifikante Gestalt umsetzen lassen und sitzen dabei selbst an MDF-Platten, so groß wie ein Feld.
Es ist wahrscheinlich kaum zufällig, dass diejenigen, die auch heute noch mit Bergen an Papieren, mit Skizzen, Büchern oder Architekturzeichnungen zu tun haben, sich selten für ein optisch auffälliges Möbel entscheiden.
Biedermeier oder Stahlrohr
Zwischen Biedermeier und der allgegenwärtigen MDF-Platten-Konstruktion (MDF ist das Kürzel für mitteldichte Holzfaserplatte, seit den Achtzigern in Europa verbreitet, verbaut in Eigenkreation gern in Weiß oder DIN-gerecht) liegt eine ganze Kulturgeschichte nicht nur allein des Schreibtischdesigns sondern der immer wieder neuen Bestimmung, wie der Mensch sich in seiner Büro- oder Home-Office-Arbeitswelt produktiv und behaust fühlen könnte.
Der Biedermeiersekretär trat im 18. Jahrhundert auf den Plan, um dank edler Furniere, geradliniger Formung und eines erstaunlichen Innenlebens sowohl im Büro wie vor allem im Privatraum Geheimnis und edle Würde zu verströmen. Schönheit und Zweckmäßigkeit der manufakturell gefertigten Möbel gehören in die Zeit des aufstrebenden Bürgertums und der letzten Phase der Langsamkeit.
Seit der Industrialisierung ging es darum, auch für die Schreibarbeit ein funktionales und optisch passables Massenmöbel anzubieten, welches neben dem vielfach gesteigerten Einzelbedarf auch im gläsernen Großraum Platz finden konnte. Vor allem Werkbund und Bauhaus begleiteten die Geschmacksbildung. Marcel Breuer ließ in den Zwanzigern und Dreißigern konsequenterweise nicht nur die Stühle, sondern auch die Bürotische auf gebogenem Stahlrohr stehen. Der notwendige Stauraum war so befestigt, dass das Licht ungehindert um die Beine streifen konnte. Der Bauhausklassiker S285 feiert mit der Firma Thonet in diesem Jahr sein 75. Jubiläum.
Der Vielfalt der Schreibtische waren mit den wechselnden Stilphasen seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr Grenzen gesetzt. Das Design variierte zwischen gerade oder schwungvoll, erfand integrierte oder beigeordnete Schübe, favorisierte statische oder dynamische Konzepte mit Klapp- und Schiebelementen rund um eine Achse, setzte PVC, Hölzer, Edelstahl oder satiniertes Glas ein.
Namhafte Gestalter haben Schreibtische entworfen, darunter Achille Castiglioni 1940 den legendären Bocktisch „Leonardo“, Carlo Mollino eine kranichgleiche Eiche-Kristallglas-Komposition mit dem Namen „Cavour“(1949). George Nelson minimierte mit dem „Home Desk“ von 1958 das Raumbedürfnis, und Jasper Morrison knüpfte 2007 daran an und schuf den notenständergleichen „Nas Table“, der den Schreibtisch im Laptopzeitalter zu einem Beistelltisch umformuliert. Der Däne Bertjan Pot schenkt mit seinem „Slim Table“ den Puristen große Arbeitsflächen, dünn wie ein Knäckebrot. 2008 gewinnt er für die filigrane Stahl-Sandwichkonstruktion mit einer Holzummantelung den IF Gold Award.
Skulptur oder Purismus ist noch immer eine gültige Frage, obwohl Philippe Starck schon 2005 die kreative Welt mit dem BaObab-Tisch erfreute. Dieser ist ein wellig geformtes, luxuriöses PVC-Objekt, das wie ein limonengrüner Eisberg losgelöst im Raum steht. Der Spaßfaktor rückt hier in den Blickpunkt und verdrängt vorübergehend Konnotationen wie edle Anmut, formvollendete Vernunft oder dramatische Geste.
Anita Wünschmann