Die Tallinner Designerin Liina Viira mischt die traditionellen Muster ihres Landes auf und liegt damit im Kulturhauptstadtjahr voll im Trend
Kleine Mädchen tragen Strampler. Große Mädchen Bärenhosen! So heißen die frechen estnischen Beinkleider aus Schafwollstrick, gestreift wie schillernde Südseefische und herrlich warm im knackkalten Winter. Die leuchtend apfelsinenfarbenen Pulswärmer reichen bis über die Ellenbogen und tragen geheimnisvolle Muster, genauso wie die regenbogen-geringelten Jacken mit den wogenden Krägen und langen Zips, die görigen Fäustlinge, sexy knappen Shorts und bunten voluminösen Mützen.
Wer hat sich das bloß ausgedacht? – solche Sterne, Rhomben, Kreuze und Zacken, kunterbunt wie Smarties und alles so fein miteinander verstrickt, dass einem ganz warm ums Herz wird? Liina Viira lebt in Tallinn, ist die Künstlerin solcher Verstrickungen. Seit sie denken kann, liebt die Dreißigjährige die alten Strickmuster.
Jede Region dort hat ihre eigenen Farben, ihre ganz speziellen Muster. In langen Wintern ausgedacht von den Frauen, wenn die Feldarbeit ruhte und alles festgefroren war, wenn das Tageslicht schon um drei Uhr nachmittags in der Nachtschwärze versank. Estlands Strickmuster sind wie uralte Geheimcodes. Sie verraten etwas über ihre Trägerin oder ihren Träger. Eine Schrift, die heute allerdings kaum noch jemand zu deuten versteht. Allein die Farben geben noch Aufschluss über die Herkunft so manchen Strickstücks. Die Frauen strickten Sterne und Karos, die aneinandergefügt neue Muster ergaben. Schmetterling, Schafsauge oder Katzenpfote heißen sie. Elchhorn oder Fliege.
Liina Viira wurde 1980 in Stockholm geboren. Beide Großelternpaare waren 1944 von Estland nach Schweden ausgewandert, als die Sowjets die Nazis verjagten und Estland annektierten. Liinas Kindheit war schwedisch und estnisch zugleich. Großmutter Ellen stickte Blumen und Sterne in die Kinderkleider ihrer Enkelin. All ihre Heimwehtränen nach der verlorenen Heimat flocht sie in deren Pullover, Handschuhe und Strümpfe. So lernte Liina die Muster ihrer Vorfahren zu lieben. Und das Stricken lernte sie. „Schon als Teenager trug ich Wollstrümpfe im Kihnu-Muster“, erzählt Liina. Ihr Großvater hatte nämlich ein Haus in Pärnu. Wenn der Kapitän in seinem Garten stand, konnte er die Insel Kihnu am Horizont sehen. Kihnus Strick- und auch Stickmuster gehörten zu Liinas Kinderzeit.
Liina studierte Mode in Stockholm. Nach Estlands Unabhängigkeit 1991 zog es sie 2005 nach Tallinn, um Estnisch zu lernen. Liina wurde Estin und blieb auch Schwedin. Ihre Familie kaufte Großvaters Haus zurück, und Liina jubelte: „Jetzt endlich konnte ich in den Strick- und Stickmustern von ganz Estland schwelgen.“ So dauerte es nicht lange, bis sie ihren ersten Modewettbewerb gewann. Ihr Label heißt „Lviira“. Die alten estnischen Muster mischte sie auf, entwarf neue Kleider, kleine Täschchen, Leggings, Pullover, Jacken und die von ihr kreierten Bärenhosen. „Die Alten freuen sich, dass sie ihr Wissen weitergeben können“, erzählt Liina. Die estnische Folklore ist ihre Reise in ihre schwedische Kindheit. Sie ist ihr Markenzeichen.
Inge Ahrens