Wenn über Gesundheit gesprochen wird, dann stehen meist die steigenden Kosten im Vordergrund. Doch das ist falsch, finden Experten: Die Gesundheitswirtschaft müsse vermehrt als Wirtschaftsfaktor verstanden werden – gerade in der Stadt Berlin mit ihren vielen Forschungseinrichtungen, Krankenhäusern und gesundheitsorientierten Unternehmen.
Als 1710 vor den Toren der Stadt ein Pesthaus eröffnet wurde, begann der Aufstieg Berlins zur Wissenschafts- und Gesundheitsmetropole. Denn aus diesem Pesthaus entwickelte sich die Charité, die im vergangenen Jahr als eine der führenden Gesundheitsinstitutionen ihr 300-jähriges Bestehen feierte. „Wir machen die Marke Charité fit für die Zukunft“, sagte aus Anlass des Jubiläums Karl Max Einhäupl, der Vorstandsvorsitzende der Charité. „Damit wollen wir auch zum Projekt des Berliner Senats beitragen, Berlin wieder zu einer der großen Stätten der Wissenschaft und zur Gesundheitsstadt zu machen.“ Um dieses Ziel zu erreichen, verabschiedeten die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg vor drei Jahren den „Masterplan Gesundheitsstadt Berlin-Brandenburg“. Dieser deckt zwölf Handlungsfelder ab, auf denen die beiden Länder ganz vorne mitspielen wollen – beispielsweise die Biotechnologie, die Telemedizin und der Gesundheitstourismus. „Dass Gesundheit kein reiner Kostenfaktor, sondern einer der wichtigsten Wirtschaftszweige unserer Region ist, konnten wir in der Umsetzung des Masterplans in den letzten drei Jahren unter Beweis stellen“, freut sich Günter Stock, Sprecher des Netzwerks Gesundheitswirtschaft (Health Capital Berlin Brandenburg). Nach seinen Worten erwirtschaftete die Gesundheitsbranche in der Hauptstadtregion mit ihren 353 000 Beschäftigten – das ist rund ein Achtel aller Erwerbstätigen – zuletzt eine jährliche Bruttowertschöpfung von rund 14 Mrd. Euro. Damit stieg die Bruttowertschöpfung zwischen 1996 und 2009 um knapp 30 Prozent und damit fast dreimal so stark wie die gesamte Wirtschaftsleistung der Hauptstadtregion. Trotzdem könnte Berlin noch mehr machen aus seinen Voraussetzungen, finden die Berater von McKinsey. In ihrer Studie „Berlin 2020. Unsere Stadt. Wirtschaftliche Perspektiven durch neue Wachstumskerne“ identifizieren sie die Gesundheitswirtschaft als einen der Wirtschaftsmotoren der deutschen Hauptstadt. Bis 2020, so die Experten, könnten in diesem Sektor 5000 bis 10 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Zum Beispiel biete die Stadt „gute Voraussetzungen, sich zur Hauptstadt für klinische Studien in Europa zu entwickeln“, sagt McKinsey-Gesundheitsexperte Matthias Wernicke. Denn hier gebe es nicht nur eine weit entwickelte Krankenhausmedizin, sondern auch eine hohe Bevölkerungszahl, so dass sich selbst für groß angelegte Fallstudien immer genügend Teilnehmer finden ließen. Noch ein zweites Beispiel nennt Wernicke: „Berlin ist auch ein idealer Standort für ein Pilotprojekt zum integrierten Präventions- und Versorgungsmanagement.“ Gemeint sind damit Modelle, die durch eine effiziente Vorbeugung und Betreuung zu kürzeren Klinikaufenthalten, geringeren Ausfallzeiten der Beschäftigten und steigenden Behandlungserfolgen bei chronisch Kranken führen. Dafür, argumentieren die Berater von McKinsey, brauche es eine Konzentration an Gesundheitsinstitutionen – und die sei nirgends größer als in Berlin. Fachleute sehen weitere Potentiale – beispielsweise in der Gewinnung wohlhabender Patienten aus dem Ausland. Zwar behandelt beispielsweise das Deutsche Herzzentrum in Berlin bereits jetzt auch ausländische Kranke. Gerade die besonders finanzkräftigen Patienten aus dem arabischen Raum zieht es aber derzeit noch eher an die Isar nach München als an die Spree. Dass die Verantwortlichen im Senat und in der Berlin Tourismus Marketing GmbH das ändern möchten, beweist der Besuch, den Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf vor einigen Monaten Saudi-Arabien abstattete und bei dem Gesundheitsthemen im Vordergrund standen. Bereits einen guten Ruf als Standort hat Berlin bei führenden Unternehmen der Gesundheitswirtschaft. „Viele Unternehmen wählen Berlin als Standort, weil sie sich bei ihren Forschungsaktivitäten Synergien mit den zahlreichen Berliner Gesundheitseinrichtungen versprechen“, hält die Investitionsbank Berlin (IBB) in ihrer Studie „Perspektiven Berliner Kompetenzfelder“ fest. Diese Attraktivität unterstreicht die Entscheidung des Prothesenherstellers Otto Bock, am Leipziger Platz ein architektonisch spektakuläres Science Center Medizintechnik zu errichten. Schon im ersten Jahr nach der Eröffnung zählte das Unternehmen dort 140 000 Besucher. Ebenfalls in Berlin präsent sind Großkonzerne wie der Pharmariese Sanofi-Aventis, aber auch einheimische Traditionsbetriebe wie Berlin Chemie oder das Marienfelder Unternehmen Dr. Kade, das in vierter Generation Arzneimittel entwickelt und produziert. Besonders prominent ist der Viagra-Produzent Pfizer, der 2008 seine Deutschlandzentrale an den Potsdamer Platz verlegte und im vergangenen Jahr weitere 200 Arbeitsplätze von anderen deutschen Standorten an die Spree holte. „Die Stadt Berlin und die Region Berlin-Brandenburg“, sagt Pfizer-Deutschlandchef Andreas Penk, „haben sich zu einem wichtigen und attraktiven Zentrum der Medizin und Gesundheitswirtschaft in Deutschland entwickelt.“ Ebenfalls für den Gesundheitsstandort Berlin spricht die Geschichte – schließlich wirkten hier zahlreiche medizinische Kapazitäten: Hier entdeckte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose, hier führte Rudolf Virchow seine bahnbrechenden pathologischen Forschungen durch, und hier wirkte der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch. Nicht zu vergessen Ernst Schering, der mit seiner Apotheke in der Weddinger Chausseestraße einer der Vorreiter der Pharmaindustrie war. Dass vor kurzem der Pharmakonzern Bayer als Eigentümer von Schering beschloss, das Fusionsunternehmen Bayer Schering Pharma in Bayer HealthCare Pharmaceuticals umzubenennen, ist freilich ein Wermutstropfen – doch selbst diese Entscheidung wird den Aufstieg der Berliner Gesundheitswirtschaft wohl nicht bremsen.
Emil Schweizer