„Ein Berliner Pfarrer hat ein Projekt gegründet, das es in Deutschland nicht geben dürfte.“ Mit diesem Satz beginnt ein Artikel im „Stern“ aus dem Jahre 2005. Heute, sechs Jahre später, gibt es das Projekt immer noch.
Es ist sogar größer geworden. Und wie es aussieht, wird es weiter wachsen. Auch der Pfarrer ist noch da. Bernd Siggelkow hat 1995 „Die Arche“ in Berlin-Hellersdorf ins Leben gerufen. Vier Einrichtungen gibt es mittlerweile in Berlin, sieben weitere in Deutschland und eine in der Schweiz. Und drei Häuser sollen noch in diesem Jahr hinzukommen. 2500 Kinder und Jugendliche werden gegenwärtig pro Tag betreut – von 135 Angestellten, 400-Euro-Kräften inklusive sowie gleichviel Ehrenamtlichen und Praktikanten. Das kostet. 2010 beträgt der Finanzbedarf 6,7 Millionen Euro, die fast ausschließlich aus Spenden stammen. Dabei lassen die nackten Zahlen nicht einmal annährend erahnen, mit welchen Tragödien Siggelkow und sein Team tagein, tagaus konfrontiert werden. Minderwertigkeitsgefühle, Perspektivlosigkeit, finanzielle wie emo-tionale Armut, Versagens- und Bindungsängste, sexuelle Verrohung – Stichworte, die nur vage andeuten, worum es bei der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen geht. „Der Misserfolg der Gesellschaft ist der Erfolg der Arche“, bringt es der Pfarrer auf den Punkt. „Und es wird noch schlimmer“, sieht er die Zukunft nicht gerade rosig. Persönlich weiß der heute 47-Jährige vermutlich so gut wie kaum ein anderer, welche Gemütslagen seine Kinder bewegen. „Als er sechs Jahre alt ist, verlässt seine Mutter die Familie. Liebe und Zuneigung sind für Bernd Siggelkow Mangelware. Die Straße wird sein zweites Zuhause. Kein guter Start. Jahre später leben er und seine Familie noch immer am Rande des Existenzminimums“, fasst der Adeo Verlag die Jugend des Autors kurz und knapp zusammen. „Papa Bernd“ heißt die Biografie, die von ihm sowie Wolfgang Büscher und Markus Mockler geschrieben wurde mit dem Untertitel: Bernd Siggelkow – Ein Leben für die vergessenen Kinder. Eben diese Kinder sind es, die ihn 1991 in ihren Bann ziehen. Bei einem Berlin-Besuch hat er „als unbedarfter Wessi“ damit gerechnet, der grandiosen Aufbruchstimmung der Wendezeit zu begegnen. Stattdessen trifft er in Hellersdorf auf Trost- und Perspektivlosigkeit. Ein 13-jähriger Junge beispielsweise, den er danach fragt, was er denn am Nachmittag so mache, habe nur geantwortet: „Ich geh’ rauf zu meiner Freundin poppen.“ Auch an die Rückfahrt erinnert sich Siggelkow noch genau: „Es war, als wenn jemand neben mir sitzt und sagt: Dort wirst Du gebraucht.“ Seine Frau, mit der der Pfarrer heute noch verheiratet ist und damals bereits drei Kinder hat, ist alles andere als begeistert. Ein Jahr dauert es, bis sie sich mit dem Gedanken anfreunden kann, ihr beschauliches Leben im Schwarzwald mit einem eher ungewissen in Berlin zu tauschen. „Wenn Du eine Wohnung in Berlin findest, dann glaube ich, dass Gott dahinter steckt“, gibt die Tochter aus einer alten Heilsarmee-Familie dem Wunsch ihres Mannes nach. Was zunächst als evangelische Freikirche mit dem Ziel von Kinder-, Jugend- und Familien- arbeit beginnt, wird schnell zum Rettungsboot für Kinder und Jugendliche, zur Arche eben, die 1995 schließlich als Verein eingetragen wird. „Wir haben gemerkt, dass wir ange- sichts des Ansturms von Kindern die Gemeindebetreuung gar nicht leisten können, und haben die Konsequenz gezogen“, erinnert sich Siggelkow. Seitdem wächst „Die Arche“. „Als wir anfingen, gab es noch keinen Armutsbericht“, so der Pfarrer, der nicht gerne an die Anfangszeit zurückdenkt. Da habe es auch viele Widerstände gegeben. Als dann aber 2001 der erste Armutsbericht der Bundesregierung erschienen sei, seien sie in der „Arche“ in Hellersdorf plötzlich die großen Experten gewesen. „Mittlerweile gibt es den dritten Bericht. In dieser gesamten Zeit hat sich die Zahl der Kinder in Armut verdoppelt“, weist er auf die 2,5 Millionen Kinder hin, die heute in diese Kategorie fallen. Allein in Berlin lebe jedes dritte Kind unterhalb der Armutsgrenze. „Die Kinder werden ihrer Kindheit beraubt“, klagt Siggelkow und fragt sich, wie man dies überhaupt kompensieren könne. Die Antwort gibt er gleich selbst, nämlich mit der Antwort auf die ihm gestellte Frage: Wie hält man diese Arbeit jeden Tag aus? „Am Ende des Tages haben wir 95 Prozent glückliche Kinder“, sagt er mit dem Hinweis darauf, dass die Kinder und Jugendlichen in der „Arche“ eine Art Zuhause gefunden hätten. „Das soll nicht das Elternhaus ersetzen, aber ergänzen.“ Dabei fällt die Arbeit der „Arche“ und ihres Gründers offenbar nicht nur bei den Kindern auf fruchtbaren Boden. Auch in der allgemeinen Wahrnehmung wächst die Anerkennung, die sich unter anderem im Verdienstorden des Landes Berlin oder im Bundesverdienstkreuz manifestiert. Auch ist Siggelkow mittlerweile gefragter Gesprächspartner der großen Politik. Die Bundesministerin-nen Ursula von der Leyen (Arbeit und Soziales) und Kristina Schröder (Familie, Senioren, Frauen und Jugend) suchen seinen Rat. Verwundern kann das nicht. Siggelkow betreut die Kinder und Jugendlichen nicht nur, sondern beschäftigt sich auch mit ihren Problemen. 2008 schockt der „Arche“-Gründer mit „Deutschlands sexuelle Tragödie: Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“, einem Buch über das Sexualleben von Berliner Jugendlichen. Darin Berichte von einem 15-jährigen Mädchen, das schon mit 40 Männern geschlafen hat, oder einer Mutter, die ihre zwölfjährige Tochter mit einem 40-Jährigen verkuppelt hat, weil dieser ein Auto habe und sie nun überall hinfahren könnte. „Wir konnten nicht alle Situationen beschreiben“, deutet der Pfarrer nur an, dass das allenfalls die Spitze eines Eisberges ist. Einen anderen Eisberg wird Siggelkow im August dieses Jahres sichtbar machen, dann nämlich, wenn „Die Wodka-Generation“ erscheint, sein Buch über das Koma-Saufen von Kindern und Jugendlichen. Dann wird es ganz gewiss auch wieder viele Diskussionen geben, die alle aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die Probleme tatsächlich da sind. Für die „Arche“ bedeutet das auch künftig viel Arbeit und einen hohen Finanzbedarf. Dabei hätte Siggelkow am liebsten, dass es die Einrichtung in zehn Jahren nicht mehr gibt. Das aber wird ein frommer Wunsch bleiben, wie er selbst weiß. Eher wird es seiner Ansicht nach 25 Archen geben, vorsichtig geschätzt.
Detlef Untermann