Sitte und Design – An welchem Tisch darf man krümeln?

Sitz gerade! Die Ellbogen gehören nicht auf den Tisch. Sprich nicht mit vollem Mund und spiele nicht mit dem Besteck herum! Ohne Mühe findet man zehn Gebote primären Tisch- und Essverhaltens. Es sind die alten Werte, die weitestgehend noch heute gelten. Allerdings etwas abgemildert. Dafür aber kommen noch gut ein Dutzend Gebote zumindest für gehobene Gesellschaften hinzu, wenn es um die weiteren ästhetischen Richtlinien für die Schönheit der Tischordnung und die Platzierung der Gäste geht.

Man kann sich vorstellen, dass ein primäres Erziehungsprogramm, das aus kleinen gefräßigen Wesen kultivierte Esser machen soll, nicht immer nur wohltemperiert über den Tisch kommt, sondern dass pädagogische Manifestationen dazu beitragen, dass der Familientisch auch als ein Hort des Bösen erlebt werden kann, zumal wenn sich Gesprächsinhalte mehr den alltäglichen Katastrophen als möglichen Vergnügungen zuwenden. So erscheint es ganz zwingend logisch, dass der berühmte Wiener ein Sofa statt Tisch und Stuhl gewählt hat, um all die im vertrauten Milieu angelegten Neurosen zu behandeln. Es geht auch anders. Der Tisch ist die schöne, lebendige Mitte des Lebens mit der Familie und mit Freunden. Der Essplatz ist der Ort für Reden und Lachen und das Verzehren der Lieblingsspeisen. Da steht schon morgendlich das Erdbeermüsli bereit. Da duften Kaffee und Semmeln. Da erfreuen die Teller und Schüsseln mit Nudeln und Salat. Ja, selbst das Ablecken eines Tellers (Nie! Nie! Noch ein Gebot!) darf doch mal als gelungene Performance größter Genussentfaltung durchgehen. Kinder beißen Muster in ihre Brote. Essen fördert die Entspannung. Experimente machen Spaß. Die Frage ist, an welchen Tischen sitzt man, wo findet sich die Familie zu Frühstück und Abendessen – was ja wünschenswert wäre – zusammen und wohin gruppiert man seine Freunde – egal ob in der offenen Wohnküche, im Arbeitszimmer. Die Wohnwelten sind durchlässig, und der Tisch an sich ist eine auf Beinen erhöhte Plattform, ein „Brückenmöbel“, auf dem sich Speisen so präsentieren lassen, dass es möglichst wenig Mühe bereitet, diese auch zu erreichen. Ein Maßstab könnte sein: Ein Tisch so groß, dass ein prachtvoller Fisch mit Kopf und Schwanz draufpasst und ein Frühstücksei nicht verloren wirkt. Kippeln darf er auch nicht. Am Tisch sitzen, speisen, debattieren, Gläser klingen lassen – das ist ein wesentlicher Bestandteil der Kulturgeschichte, und kein wirklich guter Film kommt ohne eine Tischszene aus. Da findet man den Tisch als Distanz zwischen unversöhnlichen Ehepartnern, das turbulente Fressen, Candle-Light-Dinner mit tiefen Augenblicken, die Küchenszenen, wo der Familienalltag seine Höhen und Tiefen durchlebt. In „Good Bye, Lenin!“ wurde noch einmal an den „Multifu“, den für Kaffeekränzchen und Abendessen multifunktional einsetzbaren, höhen- und breitenverstellbaren Tisch, ein Massenprodukt zu DDR-Zeiten, erinnert. Am Tisch zu sitzen ist eine kulturelle Eigenart, die sich zumindest seit dem Mittelalter in Europa durchgesetzt und weltweit (neben anderen Traditionen) Verbreitung gefunden hat. Mit dem Tisch an sich müsste man sich dabei nicht schwer tun – Beine, Platte, fertig –, wäre nicht ein Zeichen der Zivilisiertheit die Mannigfaltigkeit individueller Lebensentwürfe.

Hülsta Tisch, Modell ET 1400 – der Individuelle [Foto: kriegerhome]
 

Der Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch. Oval, rund, eckig? Schwebend oder erdverbunden? Ein- oder Vielbeiner? Es gibt Tische, die flößen ein Urvertrauen ein, dass das Leben leicht und fröhlich ist. Etwa der rote, rechteckige Tisch, eine Neuinterpretation eines Shakermöbels des Dänen Joep van Lieshut (1999 für die Firma Moooi). Der Designer und Moooi-Mitbegründer Marcel Wanders sagt: „Wir sind hier, um eine Umgebung der Liebe zu schaffen und mit Leidenschaft zu leben...“ Sein Container Table (2002) verweist genau auf jene hedonistische Inspiration. Andere verlangen nach strengerer Haltung. Das gilt vor allem für die Klassiker der Moderne. Vernunft und Schönheit verbinden sich in Le Corbusiers höhenverstellbarem und transparentem „LC6“ aus schwarzen Stahlrohrbeinen mit Glasplatte. Der „EM-Table“ (1950) von Jean Prouvé vermittelt Unkompliziertheit. Man könnte sagen, hier begegnen sich Vernunft und Vergnügen (Neuauflage bei Vitra). Landhausgeschirr wiederum mag die bodenständige Würde eines Refektoriumstisches steigern, es gehört aber nicht auf Naoto Fukasawas urbanen Ausziehtisch, der 2009 für Thonet entworfen wurde. Fukasawas Tisch zitiert mit seinen Rundungen nicht nur die weichen Formen der Sechziger, sondern beachtet auch Feng-Shui-Weisheit. Ausführung und Leichtigkeit verweisen auf moderne Klassik. Welcher Tisch passt zu wem? Es gibt die Traditionalisten – Erbstück statt Neukauf. Ein Bistrotisch ist immer charmant. Minimalisten suchen nach linearer Schönheit. Kreative Ästheten kombinieren Designerböcke mit selbstgesägter MDF-Platte, am besten lackiert. Subtile Stilisten suchen vielleicht nach einem eleganten Retrodesign, nach Isamo Nogouchis rundem Stahlstrebentisch (1954) oder dem Tulip Table (1956) mit Marmorplatte von Eero Saarinen. Echte „Ikeaneasten“ allerdings sparen Geld und können sich einen Wechsel erlauben, wenn sie mit Kreuzschraubern geübt sind. Dann gibt es noch jene, die gut ein Jahr von Möbelhaus zu Möbelhaus ziehen, auch Nächte im Internet verbringen, um nach ihrem Alter Ego in Tischform zu fahnden.

Anita Wünschmann

47 - Sommer 2011