Die Staatsbibliothek zu Berlin feiert 350. Gründungsjubiläum
Im Apothekerflügel des Berliner Schlosses begann die Büchersammlung, die 1780 schon mit 150 000 Bänden in die „Kommode“ am Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, umzog. „Die Hofbibliothek der preußischen Könige“, so erklärt die Generaldirektorin Barbara Schneider-Kempf, „trat mit der Gründung der Berliner Universität im Jahr 1810 in eine neue Epoche ein und wurde als Königliche Bibliothek Bestandteil der Preußischen Staatsverwaltung.“ Die territoriale Nähe und geistige Offenheit von Universität und Bibliothek machten aus der damaligen Mitte Berlins einen Ort der Aufklärung mit weitreichender Ausstrahlung. Im zwanzigsten Jahrhundert wird die Geschichte – geistig wie standortbezogen – turbulent und fand ihre jähesten Einschnitte durch die Bücherverbrennung im Mai 1933, mit der kriegsbedingten Auslagerung des Bestandes, der Zerstörung des Kuppelsaales 1945 und der späteren Teilung des Kulturinstituts. Nach 1990 wurden die beiden Bibliotheken Preußischen Kulturbesitzes wieder vereint. Beide Häuser, das vom Architekten Hans Scharoun an der Potsdamer Straße erbaute großzügige Ensemble mit gelber Fassade und das 1914 vom kaiserlichen Hofarchitekten Ernst von Ihne nach elf Jahren Bauzeit fertiggestellte „Stammhaus“ Unter den Linden, ergeben einen spannenden Kontrast aus Nachkriegsmoderne und Wilhelminischer Architektur. Es geht im Jubiläumsjahr in erster Linie um die Bücher, um den Kulturschatz also, der sich in Berlin zwischen Tiergarten und Mitte verteilt. Grund genug zu feiern, das seit Jahrhunderten arbeitende „Langzeitgedächtnis“ (Jakob Hein) der Stadt gebührend zu würdigen.
Ansonsten ist der Zeitpunkt vielleicht nicht ideal. Denn ist es nicht so, dass man anlässlich eines großen Geburtstages am besten alles schön hergerichtet haben möchte? Die Bauvorhaben allerdings, allen voran der gläserne kubische Neubau des Allgemeinen Lesesaals, sind derart umfangreich (größte Kulturbaustelle des Bundes), dass es noch dauern wird, bis die Besucher auch Unter den Linden wieder eine prachtvolle Bibliothek mit benutzerfreundlichen Wegen vorfinden werden. Wenn nach den Plänen des Architekturbüros HG Merz alle Neubauten und die Generalsanierung abgeschlossen sind, dann wird eben noch einmal gefeiert.
Vor allem die Mitarbeiter, die tagtäglich zwischen abgeschirmten Fluren, Plastikbahnen, bei Staub und unter ungünstigen Lichtverhältnissen Freundlichkeit aufrechterhalten sollen gegenüber den fragenden Touristen und den gelegentlich mürrischen Lesern, werden aufatmen. Jetzt muss man sich in der alten Staatsbibliothek noch an Bauabsperrungen und dem wunderschönen, aber stummen Brunnen vorbei über provisorische Holzstege vorarbeiten, um ins Innere zu gelangen. Kaum erahnbar bislang, in welcher Praktikabilität und Pracht sich das Haus der Öffentlichkeit bald zeigen soll.
Der Kuppelsaal – ein architektonisches Zeichen prominenter Bibliotheken weltweit – wurde nach seiner kriegsbedingten Beschädigung vollständig abgerissen. Nun heißt es warten auf den lichten Lesesaal. Bereits im nächsten Jahr – so zumindest die Hoffnung – soll dieser fertiggestellt sein.
Die Staatsbibliothek gilt mit ihren beiden Häusern als größte wissenschaftliche Universalbibliothek in Deutschland. Sie verfügt über elf Millionen Bände an Druckschriften und über zwei Millionen anderer Druckwerke, dazu über Handschriften, Musikautographen, Nachlässe, Karten, historische Zeitschriften, zehn Millionen Mikroformen und über zwölf Millionen Bildvorlagen. Wie emsig und diszipliniert muss man sein, um sich nur einen geringen Überblick in seinem Fachgebiet zu erarbeiten! Das stille Rascheln und behutsame Atmen in den Lesesälen gibt eine Ahnung vom Tagewerk der Wissenschaft, die in den Hauptstunden ihrer Produktivität eine einsame Übung ist. Einsam und gut aufgehoben im Miteinander der gleich Tätigen. Wie viele Studenten haben in den Jahrzehnten allein die dreißig Stufen der großzügigen Treppe ins erste Obergeschoss des schweren Ihne-Baus genommen? Inzwischen kaufen jährlich über fünfzigtausend Forscher, Studenten und sonst interessierte Leser einen Benutzerausweis. Der Slawist Fritz Mierau schreibt in der Festschrift zum Jubiläum: „Und so erlebt man den Leser Schrift aufnehmend und erzeugend in der Versunkenheit klösterlichen Abschreibens wie im digitalen Furor elektronischer Textproduktion.“ In diesem alltäglichen Leseprozess führt der einzelne seine stille Zwiesprache mit anderen Autoren und mag neue Erkenntnisse, die er daraus gewinnen kann, als Schatz für sich begreifen.
Darüber hinaus ist die Bibliothek eben auch jener magische Ort des Bewahrens. Zu den erlesenen Schätzen gehören die auf Pergament gedruckte Gutenberg-Bibel oder der als Weltkulturerbe deklarierte Autograph der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven. Eines der frühesten Werke, die aus dem Besitz des Kurfürsten von Brandenburg in die Sammlung gelangte, ist der auf Pergament geschriebene und gezeichnete Prachtkodex „Wittekindeus“. Anlässlich des Jubiläumsjahres wurden bis Juni im Deutschen Historischen Museum aus den verschiedensten Epochen und thematischen Zusammenhängen jene wertvollen Bücher und Handschriften gezeigt. Dabei auch ein Autograph von Mozart – „Le nozze di Figaro“ –, eine Koran-Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, chinesische und jüdische Schriften, Weltkarten, eine auf Papier gezeichnete Kriegsordnung (1555) oder ein Brief von Charles Darwin an Alexander von Humboldt (1839).
Anita Wünschmann