Am Anfang war das Schaf. Egal, ob schwarz oder weiß. Am Ende ein weicher grauer Wollstoff, der nahtlos über ein Holzgerüst samt Metallbeinen gezogen den Sessel „Jumper“ des dänischen Designers Bertjan Pot ergibt.
Oder: Da war die Seidenraupe und schießlich das vom Designerpaar Nipa Doshi und Jonathan Levien – sie Inderin, er Brite – kreierte Daybed „Princess“, das Patchwork mit phantastischen Mustern aufleben lässt. Die zumindest augenscheinlich aus mehreren Matratzen geschichtete Liegestelle changiert zwischen märchenhaftem Charme (Prinzessin auf der Erbse) und Nomadenlager. Die Trendforscherin Li Edelkoort hatte im Frühjahr anlässlich des 50. Jubiläums der Möbelmesse in Mailand zu einem Textilsalon geladen und zeitgenössische Positionen vorgestellt: Ein „Textil-Tsunami“ käme über uns, nachdem die siebziger Jahre sich auf Kunststoff kapriziert hatten. Vielstimmig sprechen Textilien zu uns. Sie berühren mit dem Atem zurückliegender Epochen und bezeugen mit Strukturen, Mustern, Farbe schöne Schöpfungen phantasiebegabten Handwerks. Es sprechen Naturerfahrung, Produktivität ebenso wie Sitten und Gebräuche aus Webwaren, Wollstoffen und Gewirktem. Und jeder, der auf Reisen und Märkten herumgestöbert hat, der in verblichenen und nach Lavendel duftendem Besitz der Großmutter herumwühlen durfte, wird die Lust verstehen, die mit Entdeckungen all der Formen- und Materialvielfalt mit dem Geheimnis vor allem des nicht Alltäglichen und Allgegenwärtigen, gar Exotischen verbunden ist. Der Ariadnefaden, der von der schönen Kreterin, Tochter von König Minos, gespult wurde, um Theseus nach dem Kampf gegen den Minotaurus den Weg zurück durchs Labyrinth zu weisen, ist nur ein mythologisches Zeugnis der Wertschätzung des Textilen. Der Faden als Anfang und Ende. Man könnte von Leinen und Seide träumen und ihre Kühle und Weichheit dabei in der Hand fühlen und würde gleichzeitig vielleicht Gerhart Hauptmanns Weber-Gedicht gerade jetzt im Ohr haben, wo es wiederum keinen Zweifel darüber gibt, dass die an der unmittelbaren Herstellung des Schönen selten zu den Wohlhabenden und nur sehr bedingt zu den Genießern ihrer hochfeinen Produkte zählen.
Der „Jumper“ von Bertjan Pot [Foto: Peter Guenzel | Established & Sons]
Die Botschaft der Textilindustrie und der Trendforscher – und das könnte für alle eine gute Chance verheißende Mitteilung sein – lautet: Auf diesen vielstimmigen Reichtum, den Textilien bieten, darf man nicht verzichten. Es geht darum, einen Schatz an kulturellen Werten zu heben. Einerseits. Andererseits darum, mit Hochtechnologien dem ältesten Bedürfnis, nach Schutz, Geborgenheit und Kommunikation zeitgemäß und vorausschauend dienlich zu sein. Wie das funktionieren kann, darüber geben z.B. in der Textilstadt Tilburg (Niederlande) europäische Absolventen von Design-Akademien von September bis Dezember dieses Jahres einen Überblick. Mikrobiologische Forschung und Prozessentwicklungen ermöglichen völlig neue Denkansätze, wie man bei Marin Sawa sehen kann, der mit seiner Installation „Algaerium“ eine Reihe von „lebendigen“ Textilien entwickelt, indem er Algen auf Licht reagieren und in vorbestimmen Formen wachsen lässt, oder Elaine Ng Yan Lings „Techno Naturology“. Textile Materialien werden hinsichtlich ihres physikalisch-chemischen „Formgedächtnisses“ auf mögliche Anwendungen in Architektur und Innenarchitektur untersucht (beide St. Martins College of Art and Design, London). Wolle, Seide, Baumwolle, Leinen – die angewandte Textilindustrie bedient sich aller Naturfasern und entwickelt neue Tiefenstrukturen und Oberflächen. Mit einer Fülle von Farben und Mustern werden die Sinne betört. Plaids sind so leicht, dass man sich mit Luft zu umhüllen scheint. Möbelbezugsstoffe können Licht reflektieren, und Wandbespannungen Wohlfühl-Temperaturen generieren. Teppichböden lassen sich in einem geschlossenen Kreislauf nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip (geschlossener Kreislauf) recyceln. Vor allem – und darauf reagiert der Mensch zuerst – sehen die neuen Textilien fürs Wohnen schön aus. Da ist das Sofa aus der „Sushi-Kollektion“ des Designers Edward van Vliet (Moroso / Dopo Domani). Sitzkomfort und visuelle Lust, angestachelt durch floralgeometrische Stickerei, beleben die Sinne, als treffe man an einem besonders lichten Tag unvermutet seinen besten Freund. Saris werden zu unikaten Plaids (Firma Hay/maron) vernäht und beleben mit ihren malerischen Mustern die Wohnräume. Man kann auf Strickhockern lümmeln und in Filzpantoffeln über Vintage-Teppiche schlurfen – Sinnlichkeit und Wärme, nachdem ja schon die Häkelphase für allerhand emotionale Höhen und Tiefen sorgte, werden in Produktqualitäten übersetzt und ermöglichen ein Gefühl der Gelassenheit. Handmade hat dabei Konjunktur, und ein ausgefranstes Kissen, das in einer Werkstatt z.B. in Nikosia gefertigt wurde, mag im lichtarmen Brandenburg für Stimmungsaufhellung sorgen oder die eigene Handwerkskunst wachrufen. Der Zauber, der aus dem Stilgemenge erwächst, ermöglicht mehr spielerisches Wohngefühl, als es pure Klassik und strenger Minimalismus getan hatten.
Teppiche in Vintage-Style von „HAY“
Zeitenwechsel! Kontinuität! Man kann das eine mit dem anderen verbinden – das ist ohnehin eine bekannte Grundregel, die auch weiterhin gilt. Nur die Palette ist bunter geworden und die Wertschätzung selbst des Ornamentalen, ein Rückgriff auf Art and Crafts, wie es William Morris gelehrt hatte, hinzugekommen. Ornament? Der Wiener
Alfred Loos würde sich wundern und gleich noch einmal polemisieren. Wozu sollte denn die Anschmückung taugen denn als höchst überflüssiges Ablenkmanöver vom funktional Wesentlichen? Sein Verdikt wider das Ornament (1908) nach überbordendem Dekorrausch des vorvergangenen Jahrhunderts – so scheint es – haben die Mustermacher von heute (z.B. Patterndesign) nur weiter inspiriert, nach einem Maß zu suchen, welches das Ornament als eine der ältesten bildnerischen Kulturtechniken rehabilitiert, ohne die Form darunter verschwinden zu lassen. Dekore funktionieren heute flächig oder strukturell, sie sind leicht und spielen mit Folklore. Sie übersetzen geometrische Botschaften in zeichnerische Gebilde und lineare visuelle Signale.
So kommen von der Textil- und Möbelindustrie, die ähnlich der Modebranche in schwindelerregendem, saisonalem Rhythmus mit neuen Ideen aufwartet, farbschöne Argumente für die Wahrnehmung von kulturellem Reichtum für den intimsten Ort, das eigene Zuhause.
Anita Wünschmann