Die Lindenstraße, nicht die Fernsehserie, sondern die Straße im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg, ist weltberühmt, seit der amerikanische Architekt Daniel Libeskind dort seinen architektonischen Blitz hat einschlagen lassen.
Die schiefen Ebenen, spitzen Winkel, fallenden Fluchten, das linear konzipierte und symbolische Architekturkleinod – der „zerborstene Davidstern“ – war seit seiner Fertigstellung 1999 schon ein Jahr lang Publikumsmagnet, bevor das komplett eingerichtete Haus zur meistbesuchten musealen Stätte Berlins wurde. Der Bau allein entwickelte sich zu einer der prominentesten Architekturrealisierungen, welche die Aufbruchstimmung in Berlin nach dem Mauerfall wesentlich mitprägten. Er avancierte mit seiner dekonstruktiven Gestalt zum Zeichen von Modernität und Weltoffenheit. So funktionierte das Museum bereits ohne „Inneneinrichtung“ als Branding für eine Stadt, die sich seit 1989 neu definieren musste und wollte.
Der Neuseeländer Ken Gorbey, ein erfahrener Museumsmann, hat die Herausforderung angenommen und eine aufsehenerregende Ausstellung in die selbst sprechende Architektur hineinkomponiert. Das Jüdische Museum ist – betrachtet man vor allem seine Dauerausstellung – Berlins spektakulärster Guckkasten, ein reicher Bilderbogen durch die 2000-jährige Geschichte europäischen Judentums und ein interaktives Lernzentrum. Konzeptuell reduzierter, dafür umso wirkungsvoller sind die Bereiche, die sich mit dem Holocaust bzw. der Geschichte der Emigration befassen. Das Museum beherbergt außerdem meistens gleich mehrere Wechselausstellungen, ein umfassendes Archiv, das Rafael Roth Learning Center sowie Forschungseinrichtungen. Nun feierte das 2001 mit Hilfe von Spenden komplett eingeweihte und von Direktor W. Michael Blumenthal geleitete Haus sein zehnjähriges Jubiläum.
links: Die Sackler Treppe, rechts: Installation von Menashe Kadishman »Schalechet« (Gefallenes Laub) [Fotos: Jens Ziehe © Jüdisches Museum Berlin, rechts: Schenkung von Dieter und Si Rosenkranz]
Eine Woche Festtagsstimmung und Ehrungen sind vorbei, der Alltag zieht wieder ein und damit ein ungebrochen lebhaftes Interesse, tagtägliche Schülergruppen, die sich mit der wechselvollen jüdisch-deutschen Geschichte vertraut machen wollen, internationales Publikum. Das Besucherbuch birgt viele Sprachen und Handschriften.
Betritt man das Museum, hat die Sicherheitsschleusen passiert, steht man zunächst im barocken Bau des einstigen Berlin-Museums (histor. Kollegienhaus). Von hier aus geht es über die symbolischen drei Wegführungen – die Achse der Kontinuität, die des Exils und jene der Vernichtung in divergierende Richtungen und mit gänzlich verschiedenen emotionalen Wirkungen durch den Museumsneubau. Der Weg in den Stelengarten mit seinen Ölweiden ist dem Exil als einem fremden, unbehausten Dasein gewidmet. Bedrängnis und Einsamkeit vermittelt der Holocaust-Turm. Man mag die Achse der Kontinuität als Hauptlinie begreifen. Sie führt zur steil aufsteigenden Treppe und dem Beginn der zugleich historisch wie thematisch gegliederten Exposition mit den verschiedensten Facetten jüdischen Lebens in Deutschland. Der Granatapfelbaum bildet hier ein einprägsames Bild für einen paradiesischen Anfang.
„Die Ausstellung ist wunderschön, aber die Architektur ist spektakulär“, lautet einer der letzten Oktober-Einträge im Gästebuch, in dem bei allem Staunen über die Vielfalt der Informationen, der Mitmachstationen, der Filme, Dokumente, Fotografien auch Fragen formuliert werden wie: „Wo bleiben die einfachen jüdischen Menschen, nicht alle waren Forscher, Künstler und Bankiers?“ Oder es wird Sorge in dem knappen Satz formuliert: „Hoffentlich bleibt alles friedlich!“
Geplante Akademie des Jüdischen Museums - Entwurf von Daniel Libeskind [© Architekt Daniel Libeskind AG, Zürich, Rendering: bromsky]
Das jüdische Museum hat in den zehn Jahren seiner Existenz nicht nur zahlenmäßig mit Publikumserfolgen gepunktet, sondern Menschen informiert, begeistert, nachdenklich gemacht. Es ermöglicht das Erlebnis einer ideenreichen und lebensbejahenden großen Erzählung über Gemeinsamkeiten und Differenzen, Assimilation und Distanz. Es ist eine, wenn auch zweifelsohne nicht vollständige, narrativ angelegte Überblickschau, welche die gegenseitige Akzeptanz und die Würde der erbrachten kulturellen Leistungen in den Mittelpunkt stellt, ohne auf die Ausgrenzungen, die verheerenden Pogrome, den Antisemitismus zu verzichten. Es ist eine Erzählung, wie sie hinsichtlich ihrer Struktur gerade jetzt Europa gut täte.
In den vergangenen zehn Jahren ist nicht allein das Museum zu einer beliebten Institution geworden, sondern hat sich jüdisches Leben in Berlin vielgestaltig und längst nicht nur museal erinnernd etabliert. Das Haus in der Lindenstraße mag für diesen Prozess ein Zentralgestirn mit weitreichender Außenwirkung sein. Mehr eben als ein Touristenmagnet. Um diesem Anspruch auch weiterhin gerecht werden zu können bzw. differenzierter sich den Facetten moderner jüdischer Urbanität und ihrer Geschichte zuzuwenden, ist ein Erweiterungsbau für elf Millionen Euro (Bundesgelder und Spenden) beschlossen worden, der ebenfalls vom Büro Daniel Libeskind realisiert wird. Seit Februar laufen die Umbauarbeiten in der einstigen Blumengroßmarkthalle gleich gegenüber. Darin soll auf sechzig Prozent der Fläche eine Akademie mit Garten entstehen. Schon schieben sich die hölzernen Kuben aus der Außenhaut des einstigen rechtwinkligen Zweckbaus und lassen das Konzept der Haus-in-Haus-Struktur erkennen. Allein die asymmetrisch geformten, schief gelagerten hölzernen Kisten bilden – abgesehen von ihrer Symbolik, die an Transportcontainer erinnern soll – die integralen Räume und dienen als Funktionen Bibliothek, Archiv und Bildungsakademie. Wie schön der Gedanke an einen hängenden Garten! Das Landschaftsarchitekturbüro „atelier le balto“ wird hier typische, aber den konkreten Wachstumsbedingungen angepasste Pflanzen zum „Garten der Diaspora“ arrangieren.
Anita Wünschmann