In den vergangenen Monaten schockierte ein Video die Öffentlichkeit. Es zeigt, wie ein junger Mann auf einen anderen brutal einprügelt und ihn mit Fußtritten so traktiert, bis der schließlich fast reglos am Boden liegen bleibt. Eine Überwachungskamera auf dem Bahnhof Friedrichstraße hatte die Tat aufgezeichnet. Ein Einzelfall? Sicher. Es kommt selten vor, dass ein tätlicher Angriff gefilmt und dann auch noch öffentlich gemacht wird. Doch dadurch erzeugt er genau das Phänomen, das als „die Macht der Bilder“ im kollektiven Bewusstsein Wirkung zeigt. Plötzlich gewinnt ein Einzelfall gesellschaftliche Relevanz. Denn Bilder prägen mehr als alles Schriftliche unsere heutigen Wahrnehmungsgewohnheiten, genährt vom „unverwüstlichen Grundvertrauen in das Sichtbare“. Die Folge: Eine Bürgerbefragung unmittelbar nach der Gewalttat ergab, dass die Angst vor Schlägern oder Pöbeleien viele Berliner veranlasse, nicht zu jeder Zeit die S- oder U-Bahn zu benutzen. Dabei sei die Sorge vor Übergriffen in den Verkehrsmitteln keine Frage des Alters.
So hat das Video, das einen 18-jährigen Schüler in einem wahren Gewalt-rausch zeigt, spontan jene Angst vor Brutalität und Gewalt heraufbeschworen, die ohnehin latent bei den Bürgern vorhanden ist und das individuelle Sicherheitsgefühl mitprägt. Rund die Hälfte der Befragten wünschten sich daraufhin mehr Personal von BVG und S-Bahn auf den Bahnhöfen, ebenso mehr Polizeipräsenz und Sicherheitspersonal.
Obwohl die Straftaten im öffentlichen Nahverkehr nach Angaben des Regierenden Bürgermeisters in den letzten Jahren rückläufig seien, sah sich der Berliner Senat veranlasst, nun ein zusätzliches Sicherheitspaket zu schnüren. Wohl dann hauptsächlich wegen der zunehmenden Brutalität der Übergriffe. Das veröffentlichte Video vom U-Bahnhof Friedrichstraße markierte sozusagen deren traurigen Höhepunkt.
Mit einem finanziellen Aufwand von insgesamt 30 Millionen Euro umfasst das neue Sicherheitspaket indes erstaunlich umfangreiche Maßnahmen. Das Land Berlin will zweihundert neue Polizisten ausbilden, die allerdings erst ab 2013 zur Verfügung stehen werden. Zunächst kommt eine kleinere Reservetruppe auf besonders gefährdeten Bahnhöfen zum Einsatz. In Partnerschaft mit der Polizei wird die BVG in neue Überwachungstechnik, aber auch in Präventionsarbeit investieren und ebenfalls zweihundert neue
Sicherheitskräfte verpflichten. So werden beispielsweise auf ausgewählten U-Bahnhöfen ganztägige Videoüberwachungen in Echtzeit möglich sein. Neue Sicherheitstechnik soll zudem vor allem der Abschreckung dienen, indem die Sicherheitskräfte über Lautsprecher gezielt potentielle Täter oder Randalierer verbal auf die Konsequenzen ihrer Handlungen hinweisen und so die Situation entschärfen.
Zum neuen Sicherheitskonzept gehört außerdem eine Aufklärungskampagne für mehr Zivilcourage. Geplant als Plakataufforderung, bei Übergriffen nicht wegzuschauen und im Ernstfall über eine der Notrufsäulen Hilfe anzufordern.
Ob der Aufwand für ein solches Sicherheitskonzept gerechtfertigt ist oder nicht, darüber kann man streiten. Die rückläufige Entwicklung der Straftaten im öffentlichen Nahverkehr hätte es nicht zwingend erfordert. Bemerkenswert ist allemal der Anlass: die Veröffentlichung des Videos aus einer Überwachungskamera. Deren Bilder haben ihre eigene Dynamik entfaltet mit dem darauffolgenden Aktionismus. Ein Lehrstück über die Macht der Bilder.
Reinhard Wahren