Hier, sagt W. Michael Blumenthal, hier – gemeint ist Deutschland – sei er fast zu Hause. Seine Heimat aber sei Amerika. Mehr noch: „Ich war schon Amerikaner, bevor ich überhaupt angekommen war“, erinnert sich der Direktor des Jüdischen Museums zu Berlin.
Und doch, wenn man den 85-Jährigen bei einer der Jubiläumsveranstaltungen zum 10-jährigen Bestehen auf dem Sofa in seinem Museum sitzen sieht, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mann dorthin gehört, genau dorthin. Denn bei dem, was er tut und sagt und wie er sich gibt, fallen einem unwillkürlich – im besten Sinne – preußische Tugenden ein.
Dabei hätte Blumenthal ob seines Lebens, das er selbst im vergangenen Jahr unter dem Titel „In achtzig Jahren um die Welt“ in einer lesenswerten Biografie zu Papier gebracht hat, allen Grund, mit Deutschland über Kreuz zu liegen und jedweder Ähnlichkeit mit deutschen Eigenschaften abzuschwören. Immerhin sind er – geboren 1926 in Oranienburg vor den Toren Berlins – und seine Familie 1939 in der deutschen Hauptstadt gerade noch dem braunen Mob entkommen und mussten unter schwierigsten Bedingungen bis 1947, ehe sie endgültig in die USA emigrierten, in Shanghai ums Überleben kämpfen – und das mit zehn Mark Startkapital.
Aber statt sein Schicksal zu beklagen und über die Ungerechtigkeiten des Lebens zu lamentieren, stellt Blumenthal Deutschland gute Noten aus und sich rückschauend lieber immer mal wieder die Frage, „was, wenn ich kein Jude gewesen wäre? Wäre ich auch Nazi geworden? Hätte ich auch mitgeschrien? Oder hätte ich auch weggeguckt wie die meisten anderen? Oder wäre ich einer von den wenigen gewesen, die aktiv Widerstand geleistet haben?“ Dazu gehöre eine ganze Menge Selbstbewusstsein und Mut. „Und Mut“, das weiß er, „ist Mangelware. Auch in Amerika.“
Der damals 13-Jährige musste sich nicht entscheiden. Dafür aber hat er viel gelernt, vor allem über das Leben. Davon erzählt er, in seiner Biografie liest sich das so: „Die Gefühle dieser letzten Monate haben sich mir eingeprägt, aber ebenso die Lehren, die ich aus dieser Zeit am Ende der dreißiger Jahre im nationalsozialistischen Berlin zog und die mir im späteren Leben von Nutzen sein sollten. Ich hatte erfahren, dass moralischer Mut eine seltene Eigenschaft ist und öffentliche Feigheit und die Neigung, Ungerechtigkeit gegenüber anderen zu dulden, tief in uns verwurzelt sind. So war es bei meinen deutschen Landsleuten. Mir wurde eine wertvolle Lektion zuteil über die Vergänglichkeit der eigenen Existenz, die Kurzlebigkeit von gesellschaftlicher Stellung und materiellem Besitz und die Gefahr eines darauf gegründeten Stolzes.
Not kann ein großer Gleichmacher sein. Als Flüchtling im Exil war der in Deutschland einst Reiche nicht bessergestellt als sein Diener, der Mann mit der bedeutenden Position galt nicht mehr als der kleine Angestellte vor seinem Büro, und in Deutschland verliehene Ehrungen und Titel waren nichts mehr wert. ,Wie hättest du dich gehalten, wenn du den Brennerpass mit ganzen zehn Mark in der Tasche überquert hättest?’, fragte ich mich oft, wenn ich in meinem späteren Leben einem jener egozentrischen ,großen Tiere’ gegenüberstand, die vor Selbstzufriedenheit nur so strotzten.
Die wertvollste Lehre war die Erkenntnis, dass in einer Notlage nicht die Titel und Besitztümer zählen, sondern die innere Stärke, auf die man sich stützen kann, und der Mut, weiterzumachen, wenn alles gegen einen spricht, zuzeiten sogar mehr, als man selbst ahnt. Dies vor allem hat mich meine Mutter gelehrt.“
Vermutlich wurzeln in dieser Zeit seine am offensten zu Tage liegenden Charaktereigenschaften – Zielstrebigkeit und Bescheidenheit. Denn auf der einen Seite ist Blumenthals Leben geradezu der Prototyp des amerikanischen Traums: Hilfsjobs in Shanghai, Studium in Berkeley und Princeton, Promotion, Professur, Vizepräsident und Direktor der Crown Cork International Corporation, wirtschaftspolitischer Berater der US-Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, Vorstandsvorsitzender eines Technologieunternehmens, Finanzminister unter US-Präsident Jimmy Carter, Vorstandsvorsitzender verschiedener Unternehmen und Banken. Auf der anderen Seite, auch Blumenthal war – und ist sicher noch – ein „großes Tier“, von strotzender Selbstzufriedenheit indes keine Spur. Vielmehr freut er sich bescheiden darüber, „wie sich das mit dem Jüdischen Museum hier entwickelt hat“. Und er fühle sich geehrt und sei glücklich, wenn er gefragt werde, das weiterzumachen. Dabei spricht es für sich, wenn er in diesem Zusammenhang auch noch an seine Eltern und Großeltern denkt, die sich freuen würden, „wenn sie wüssten, dass sie durch dieses Museum nicht vergessen sind“.
Wer nun glaubt, Blumenthal würde sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, ist im Irrtum. Der agile Weltenbummler, der zwischen Deutschland und Amerika hin und her pendelt, hat sich für das Jüdische Museum, das mit 7,3 Millionen Besuchern seit der Eröffnung 2001 zu einem der erfolgreichsten Häusern der Welt zählt, noch einiges ausgedacht und viel vorgenommen: Eine Erweiterung in der gegenüberliegenden Blumengroßmarkthalle, in der eine Akademie des Museums entsteht, die die Bereiche Bildung, Archiv und Bibliothek künftig unter einem Dach vereint. Die Gestaltung, wie sollte es anders sein, liegt einmal mehr in den Händen des renommierten US-Architekten Daniel Libeskind, der auch schon den Neubau des Museums sowie den Glashof im Altbau entworfen hat. Im Mittelpunkt – sozusagen als zentrales Thema – sollen Fragestellungen rund um die Integration stehen, wie zum Beispiel, wie Minderheiten in einer globalen Welt friedlich in eine Gesellschaft integriert werden können. Dass das Jüdische Museum die Probleme nicht lösen kann, weiß der „realistische Optimist“, als der er sich bezeichnet. Aber einen Beitrag leisten will es. Helfen sollen dabei vor allem die Lehren aus der deutsch-jüdischen Geschichte. Man darf sicher sein, dass von dort noch das eine oder andere Ausrufezeichen zu vernehmen ist.
Jemand hat Blumenthal einmal gesagt, er sei zwar der 64. Finanzminister der Vereinigten Staaten gewesen, aber letzten Endes sei er nur eine Fußnote in der Geschichte. Hier in Berlin aber habe er etwas geschaffen, was noch sein werde, wenn er schon längst nicht mehr da sei. Wohl wahr. Und Hermann Rudolph hat ihm zu seinem 80. Geburtstag sicherlich die treffendsten Beschreibungen ins Stammbuch geschrieben: „Dieser Amerikaner aus Berlin ist eine der erstaunlichsten Erscheinungen des Nachwende-Berlins. ... Man darf ihn wohl einen Glücksfall für Berlin nennen.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Detlef Untermann
Buchtipp
W. Michael Blumenthal: In achtzig Jahren um die Welt. Mein Leben.
Propyläen Verlag, Berlin 2010. 570 Seiten, 24,95 Euro.