Berlin bohemian

Etagen-Pensionen in großbürgerlichen Charlottenburger Wohnungen erzählen Berliner Geschichte. Der Gast wohnt günstig, stilecht und nicht nullachtfuffzehn.

Die letzten schönen Herbsttage hatte Isolde Josipovici samt Belegungsbuch und Telefon noch auf dem Balkon verbracht. Jetzt sitzt sie gemütlich auf ihrem barocken Sofa. Die Gäste können kommen. „Ich habe die schönste Pension Berlins“, sagt Frau Josipovici bestimmt. „Hallohoo, Pension Kettler. Ja gern können Sie am Wochenende kommen. Sie kriegen auch das Callas-Zimmer. Es ist das feinste.“
Frau Josipovici ist Wirtin seit mehr als 40 Jahren in Charlottenburg. Ihre Pension gibt es allerdings schon seit 1900. Ihr verstorbener Mann Leon hatte sie gekauft. Die attraktive Pfälzerin war mal Mannequin und ist jetzt im unaussprechlichen Alter. Sie ist chic gekleidet, tadellos geschminkt und sehr temperamentvoll. Frau Josi-povici steckt voller herrlicher alter Geschichten. Sie und ihre Pension sind ein Erlebnis.
In der riesigen Jahrhundertwendewohnung hat jedes ihrer sechs Zimmer einer Berühmtheit: Goethe, Schiller, Toulouse-Lautrec, Maria Callas und Peggy Guggenheim. Alle haben einladende Betten, kostbare Tapeten, gemütliche Sitzmöbel samt Kissen und einen Tisch, an dem sie morgens jedem Gast sein Frühstück serviert. Einem Herrn hat es so gut gefallen, dass er irgendwann ganz geblieben ist und seitdem sein Leben als Dauergast der „Pension Kettler“ genießt.
Charlottenburg ist groß und wohlhabend. Es ist grün und einladend und hat irgendwie Klasse. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg haben sich rechts und links vom Kurfürstendamm in den riesigen großbürgerlichen Wohnungen Pensionen eingerichtet. Die großen Räume, wo einst große Familien mit Personal wohnten, konnte kaum jemand halten. Die Kriegerwitwen schon gar nicht, und Hotels gab es kaum damals in Berlin. In manchen der alten Pensionen kann man heute noch wohnen.
Wer sie betritt, macht eine Zeitreise zurück ins alte Berlin. Lüster, orientalische Teppiche, Kunst an den Wänden, Quastenlampen, Seidentapeten. Und fast immer steht eine Persönlichkeit dahinter. So wie Frau Josipovici. Wolkige Voilegardinen über riesigen Doppelfenstern, Palmen raschelten im Durchzug, Dienstmädchen mit Staubwedeln hatten ordentlich zu tun.
So oder so ähnlich kann der Berliner Pensionsgast noch heute wohnen. Vorausgesetzt, er interessiert sich auch für das Gestern der heute so angesagten Hauptstadt und hat keine Angst vor großen Mustern. Inzwischen haben die meisten Pensionszimmer eine eigene Dusche. Die Toiletten gehen vom Endlosflur ab. „Haben Sie etwa zu Hause Ihre Toilette im Zimmer?“, fragt Frau Josipovici schon mal, wenn jemand murrt. Alles ist picobello bei der munteren Pensionswirtin. Sie hat sogar ganz entzückende kleine Wasch- und Schminkkabinette nach ihrer Vorstellung bauen lassen, die hinter einem Vorhang verschwinden. Da fühlt man sich fast wie in der Theatermaske.
Charlottenburg ist riesig. Es gab schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl Mietskasernen als auch großbürgerliche Wohnungen und Villen. Ganz im Westen, am Lietzensee, steht das Haus See-Eck wie eine Burg. Ein Geheimer Kommerzienrat hat es 1909 für seine Familie erbaut. Damals, als Charlottenburg noch gar nicht zu Berlin gehörte. Das wurde erst 1920 von der Stadt einverleibt. Veit Jost, der als Stadt-Imker im Garten am See werkelt, betreibt dort die „Pension Beletage“.
Diese Räume muss man gesehen haben: mit kunstvoll bemalten Wänden, reichlich Stuck, gewundenen Säulen und herrlichen Holzfußböden. Hier scheint die Zeit angehalten, und die Räume sind so groß, dass die eingestellten Betten mit dem altmodischen Kniff in den Kissen ganz verloren wirken. Bei aller Herrschaftlichkeit sind die Nassräume für alle da. Morgens wird gemeinsam am großen Tisch im prachtvollen Foyer gefrühstückt. Und manchmal gibt es Lesungen im großen Saal oder Theatervorführungen.
Birgit Jochens, Leiterin des Charlottenburger Heimatmuseums, kennt den ihr anvertrauten Stadtteil aller-bestens. „Von 235 Gebäuden am Kurfürstendamm waren nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch 45 bewohnbar“, erzählt sie. Auch Isolde Josopovici, die als Mannequin einst für Betty Barclay über die Dörfer tourte und in Berlin hängen blieb, erinnert sich an bessere Zeiten: „Anfang der sechziger Jahre, da war der Ku’damm noch elegant. Die Frauen! Wie die angezogen waren! Und überall gab
Restaurants, Cafés, Bars. Guckte man aber nach oben, war noch vieles vom Krieg gezeichnet.“
In der Hotelpension Nürnberger Eck, unweit vom KaDeWe, hegt und pflegt Helma Baalmann seit 26 Jahren ihre Berliner Etage. „Ich wasche sogar die alten Tapeten von 1930.“ Mit Feuereifer versucht sie das Original zu erhalten. Isolde Josipovici und ihre Mitstreiterinnen geben nicht auf, obwohl es Wochen gibt, wo kein einziger Gast sich blicken lässt.
Derweil rüstet Berlin weiter auf als Touristenstandort. 750 Hotels gibt es schon, und die Stadt baut noch eins und noch eins – und bringt nicht nur die 130 neuen und alten Pensionen, sondern auch die großen Häuser in die Bredouille. Jetzt, wo Charlottenburg im Kommen ist, sind die AltCharlottenburger Pensionen in die Jahre gekommen. Sie haben etwas mehr Aufmerksamkeit verdient – und ihre Wirtinnen auch. Isolde Josipovici war schon in den 50er Jahren berlinverliebt. „Diese Sehnsuchtslieder. Ich hab’ geweint.“ Heute erzählt sie den Gästen Geschichten vom tollen Berlin, wie sie es erlebte.

 

Inge Ahrens

 

 

49 - Winter 2011/12
Stadt