Sehen bis zur Unschärfe

Aus Anlass seines 80. Geburtstages würdigt die Neue Nationalgalerie das umfangreiche Werk Gerhard Richters mit einer grandiosen Retrospektive.

Eine junge Frau, sich vom Betrachter abwendend, zwei brennende Kerzen vor grauschwarzem Hintergrund, verschwommene, undeutlich zu erkennende Figuren und Landschaften, eine übergroße graue Fläche, geheimnisvolle Wellen- und Wolkenbildungen, sich auflösende Stadtansichten, großformatige Abstraktionen in bestechender Rakeltechnik und ein dies alles umschließendes Farbmosaikband – so zeigt sich das ungewohnte Nebeneinander von figurativen und abstrakten Bildern, wie derzeit in faszinierender Weise in der Neuen Nationalgalerie zu sehen. Gemeinsam mit der Tate Modern in London und dem Centre Pompidou in Paris sind es gleich drei große Museen, die das Werk des Malers Gerhard Richter nacheinander würdigen. Das zeigt die große Wertschätzung des wohl international bedeutendsten deutschen Künstlers. Die Eröffnung der Ausstellung in der Neuen Nationalgale­rie fiel fast genau auf seinen 80. Geburtstag, gewissermaßen ein Geburtstagsgeschenk. Sich selbst hat Richter auch beschenkt: Ein zweihundert Meter langer Farbenfries, die Version I seiner abstrakten Arbeit „4096 Farben“, die er eigens für die Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie verwirklichte, gibt den Rahmen für ein Panorama, das seinesgleichen sucht. Denn einerseits korrespondiert es in beeindruckender Weise mit der großräumigen und offenen Architektur des berühmten Museums von Mies van der Rohe. Andererseits ist es chronologisch angelegt und führt durch sämtliche Schaffensperioden des Künstlers. Seit Beginn der sechziger Jahre ist es dabei vor allem die Malerei, an der Richter unbeirrt festhielt, obwohl er zwischenzeitlich auch nach anderen Ausdrucksformen suchte. Zum Beispiel mit Spiegeln und gläsernen Stellwänden experimentierte, woraus seine Glas-Skulpturen hervorgingen, oder ein Fenster für den Kölner Dom entwarf.

In seinem umfangreichen malerischen Werk stellt sich Richter im Grunde nur eine Frage: Was kann Malerei ausdrücken? Mit drei thematischen Schwerpunkten, die Allgegenwart der Fotografie, die Möglichkeiten der Farbengestaltung und die Bildlichkeit von historischen und privaten Ereignissen. Dabei kommt es Richter vor allem auf das Sehen an, auf die Suche nach dem Bild oder Ereignis hinter dem Bild. „Ein Bild kann uns helfen, etwas zu denken“, so Richter selbst im Jahre 2002. Zwangsläufig ist auch das Deuten von Bildern nicht Richters Sache, und er überlässt das getrost anderen. Er könne seine Bilder nicht in Worte fassen. Ein Bild, das man erklären müsse, sei kein richtiges Bild.

Die Einordnung seiner Bilder fällt indes schwer. Zu vielschichtig und wechselhaft ist sein Werk. Zumal sich Abstraktion und Figuration gegenseitig bedingen. Deshalb sind in der Ausstellung stilistisch unterschiedliche Bilder unmittelbar nebeneinander zu sehen, ganz im Sinne der Kuratoren, die mit „panoramischem Blick“ dem chronologischen Prinzip folgten.

Zum Markenzeichen allerdings wurde Richters gemalter Fotorealismus, der sich durch das Gesamtwerk zieht: in Form von verwischten Bildern, denen ihre reale Schärfe genommen wurde. Das Dargestellte ist nicht genau erkennbar, eindeutige Zuordnungen fehlen, die Wirklichkeit wird zum Zerrbild. Richter deckt bewusst einen Schleier über seine Bilder, um die Grenzen der Bildhaftigkeit zu zeigen. Ein Bild kann unmöglich all das ausdrücken, was mit ihm ausgedrückt werden soll. Es bleibt für den Betrachter immer eine gewisse Unschärfe, Rätselhaftigkeit, die über den augenscheinlichen Bildinhalt hinausgeht. Das betrifft auch den Maler selbst, der dann auch zum Mittel der Abstraktion greift, um nicht am eigenen Anspruch oder den Grenzen der Darstellbarkeit zu scheitern. Richter zeigt im Grunde die Unmöglichkeit, mit einem Bild die Wahrheit zu vermitteln.

Die retrospektive Ausstellung umfasst rund 130 Gemälde und fünf Glas-Skulpturen, die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler ausgewählt und angeordnet wurden. Sein berühmter 15-teiliger RAF-Zyklus allerdings passte offenbar nicht ins Ausstellungskonzept und ist in der Alten Nationalgalerie zu sehen. Wohl mit der Absicht, mit ihm einen Bezug zur dortigen Historienmalerei herzustellen. Parallel zur Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie zeigt der Me Collectors Room Berlin Arbeiten des Künstlers, die in einer größeren Auflage erschienen sind. Die Olbricht Collection ist die weltweit einzige Privatsammlung, die annähernd alle Editionen Gerhard Richters von 1965 bis 2011 vereint. In seiner Heimatstadt Dresden, die Richter 1961 verlassen hat, um sich in Düsseldorf anzu­siedeln, ist außerdem Richters Bilderatlas zu sehen. Er umfasst Bildvorlagen und Fotomotive, die ihn inspiriert haben und die ein wichtiger Bestandteil seines künstlerischen Werkes sind. Wer Bilder von Gerhard Richter bislang nur vereinzelt sehen konnte, hat also derzeit die einmalige Gelegenheit, sein faszinierendes Gesamtwerk kennenzulernen.


Reinhard Wahren

 

 


Information
Gerhard Richter: Panorama
Bis 13. Mai 2012
Neue Nationalgalerie, Kulturforum
Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin

Gerhard Richter in der Alten Nationalgalerie
Der Zyklus „18. Oktober 1977“ ist während der Ausstellungsdauer in der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel Berlin zu sehen

Gerhard Richter – Editionen 1965-2011
Bis 13. Mai 2012
Me Collectors Room Berlin
Auguststraße 68
10117 Berlin

Gerhard Richter: Atlas
Bis 22. April 2012
Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Kunsthalle im Lipsiusbau, Brühlsche Terrasse, 01067 Dresden

 

 

50 - Frühjahr 2012