Die Vereinten Nationen haben 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt. Auch in Berlin spielen Genossenschaften eine wichtige Rolle. Gerade Wohnungsbaugenossenschaften pflegen nicht nur die Tradition, sondern beweisen auch, dass sie moderner sind als ihr Ruf.
Im späten 19. Jahrhundert wohnten viele Menschen in furchtbaren Verhältnissen. In den stark wachsenden Städten fehlte es an Wohnraum, so dass vielköpfige Familien unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in winzigen, düsteren Hinterhofwohnungen hausten. Es waren Genossenschaften, die sich mit diesen Verhältnissen nicht anfreunden wollten und danach trachteten, auch Arbeitern und kleinen Angestellten ein angenehmes, gesundes Wohnen zu ermöglichen. Fast 150 Jahre nach Gründung der ersten Wohnungsbaugenossenschaften spielen Genossenschaften noch immer eine wichtige Rolle auf dem deutschen Wohnungsmarkt. Die rund 2 000 deutschen Wohnungsbaugenossenschaften besitzen 2,2 Millionen Wohnungen, was einem Zehntel des gesamten Mietwohnungsbestandes entspricht. Allein in Berlin sind etwa 190 000 Wohnungen in der Hand von Genossenschaften.
Mitglieder einer Wohnungsbaugenossenschaft sind dabei streng genommen keine Mieter: Über ihre Genossenschaftsanteile sind sie Miteigen-tümer der Genossenschaft und haben deshalb auch Mitbestimmungsrechte. Zudem genießen sie lebenslanges Wohnrecht und brauchen keine Angst vor Eigenbedarfskündigung zu haben. „Wohnen bei Genossenschaften ist auf einem sich stark wandelnden Wohnungsmarkt die sichere Alternative“, sagt deshalb Frank Schrecker, Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugenossenschaft Berolina und gleichzeitig Sprecher einer Marketinginitiative, zu der sich 21 Berliner Wohnungsgenossenschaften zusammengeschlossen haben. Im Mittelpunkt der Entscheidungen stünden immer die Mitglieder, und mit ihren Wohnungen werde kein spekulativer Handel getrieben, so Schrecker. Trotz dieser Vorzüge haftet Genossenschaften in der öffentlichen Wahrnehmung etwas Altmodisches an. Allein Namen wie Beamten-Wohnungs-Verein zu Köpenick eG oder Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 eG wirken eher unzeitgemäß. Zu Unrecht, viele Genossenschaften stellen sich sehr wohl den Anforderungen der Zeit. Die Berolina zum Beispiel errichtet bis 2014 in zwei Bauabschnitten rund hundert Wohnungen an der Sebastianstraße in Mitte. In dem auf den Namen „Myrica – Grün wohnen in Mitte“ getauften Projekt entstehen laut dem Vorstandsvorsitzenden Schrecker Zwei- bis Fünf-Zimmer-Wohnungen, die barrierearm zugänglich und von höchster Energieeffizienz sind.
Nur günstig werden diese Wohnungen nicht: Obwohl sie die Berolina auf eigenen Grundstücken errichtet, wird eine Durchschnittsmiete von zehn Euro pro Quadratmeter (zuzüglich Nebenkosten) resultieren. Allerdings soll es eine Differenzierung geben: „Um das Wohnen insbesondere für Familien attraktiv zu gestalten“, sagt Schrecker, „sollen einzelne Wohnungssegmente deutlich unterhalb der zehn Euro kalkuliert werden.“
Neubau realisieren auch weitere Wohnungsgenossenschaften. Die EWG Pankow zum Beispiel hat in der Hermann-Hesse-Straße barrierefreie Wohnungen gebaut, während die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892 in Falkenberg, im Südosten von Berlin, tätig ist: Unter dem Namen Neue Gartenstadt Falkenberg errichtet sie im Anschluss an die berühmte Tuschkastensiedlung, die der Architekt Bruno Taut zwischen 1913 und 1916 enwarf, 160 Geschosswohnungen und Reihenhäuser.
„Auch als Genossenschaft können wir keinen preiswerten Wohnraum für einkommensschwache Haushaltee richten“, räumt 1892-Vorstand Thorsten Schmitt ein. Indem jedoch Genossenschaftsmitglieder in die neuen Wohnungen umzögen, würden günstigere Bestandswohnungen frei, argumentiert Schmitt.
Ihrer sozialen Verantwortung ist sich die traditionsreiche Genossenschaft laut Schmitt auch bei Sanierungsvorhaben bewusst. Das bewies sie bei der aufwendigen Modernisierung von denkmalgeschützten Wohnungen im Schillerpark in Wedding: Obwohl sie die Miete bei Ausnutzung der gesetzlichen Möglichkeiten um fünf Euro pro Quadratmeter hätte anheben dürfen, begrenzte sie die Modernisierungsumlage auf 1,50 Euro. Das gehe nur in der Genossenschaft. Modernisiert wurden im Schillerpark Wohnungen aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die an den von Bruno Taut entworfenen Kernbereich der Siedlung angrenzen. Dieser gehört wie die Gartenstadt Falkenberg und vier weitere Berliner Siedlungen der Moderne seit 2008 zum Unesco-Welterbe – ein Beleg für die historische Verantwortung der Genossenschaftsbewegung.
Doch Wohnungsbaugenossenschaften blicken nicht nur zurück, sondern auch in die Zukunft. So wird eines der größten Berliner Wohnungsbauvorhaben von einer neu gegründeten Genossenschaft getragen: Die Genossenschaft Möckernkiez will am südlichen Rand des Gleisdreieck-Parks 400 Wohnungen errichten. Ihren sozialen Anspruch zeigt die Wohnungsbaugenossenschaft (WBG) Am Ostseeplatz. Im Jahr 2000 in Prenzlauer Berg gegründet, erwarb sie vor einigen Jahren 15 Wohnhäuser an der Waldemar- und Adalbertstraße, mitten im sozial stark belasteten Teil von Kreuzberg. Dabei bemühte sie sich, die zahlreichen türkischen Mieter von den Vorteilen des Genossenschaftslebens zu überzeugen und so zu deren Integration beizutragen – mit Erfolg, wie Genossenschaftsvorstand Richard Schmitz sagt: „Noch immer haben wir Anfragen von Altmietern, die jetzt Mitglied der Genossenschaft werden wollen, weil sie sich von deren Vorteilen überzeugt haben.“
5,30 Euro pro Quadratmeter verlangt die WBG Am Ostseeplatz bei Neuvermietungen – deutlich weniger, als mittlerweile in Kreuzberg üblich ist. Und das zeigt für Schmitz, wie wichtig Genossenschaften sind: „Wir setzen ein Fanal, dass in Kreuzberg heute noch sozial verträgliches Wohnen möglich ist.“
Zum Internationalen Jahr der Genossenschaften haben sich die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Am 9. Oktober 2012 werden sie im Rahmen des Festival of Lights das Brandenburger Tor illuminieren.
Emil Schweizer