Die ehemalige Jüdische Mädchenschule ist jüngster Anziehungspunkt in der vielgerühmten alten neuen Mitte Berlins
In die ehemalige Jüdische Mädchenschule ist Leben eingezogen. Wer will und es sich leisten mag, kann im klassischen Pauly-Saal gepflegt lunchen oder zu Abend essen. In der ihm vorgelagerten, die zwanziger Jahre markierenden Bar erfrischen sich tagsüber die Galerienbesucher des Hauses bei einem Mokka oder lassen am Ende die Nacht ausklingen. Der Kosher Class Room auf der anderen Seite des Treppenhauses öffnet an drei Abenden die Woche. Freitags gibt’s das Schabbat Dinner. Bei Mogg & Melzer, dem Delikatessenladen gleich nebenan, kann man schon früh einkaufen und einen ersten Happen nehmen. In den oberen Etagen ist die Kunst eingezogen: Camera Work, Eigen + Art und Michael Fuchs. Letzterer hat auch das Konzept des Hauses entwickelt. Der Berliner Galerist hat für 30 Jahre das gesamte Gebäude gemietet. Demnächst soll noch das Kennedy-Museum hinzukommen.
Hätte es 2006 nicht die erste Berlin-Biennale gegeben, wäre das Bauwerk in der schmalen Auguststraße mit den fast schwarzen Eisenklinkern wohl noch den meisten Menschen ein Haus mit sieben Siegeln geblieben. Still ruhte es viele Jahre, während sich drum herum die Spandauer Vorstadt vom grauen, verwitterten Ost-Berliner Mietskasernen-Viertel zum schillernden Szene-Kiez entwickelte.
Als einer von zwölf Ausstellungsorten des Kunstmarathons, der die ganze Auguststraße einbezog, waren 2006 wegen der dort gezeigten Exponate die Räume öffentlich zugänglich, in denen noch 1941 jüdischen Mädchen Hebräisch und künstlerisches Handwerken neben anderen Fächern gelehrt wurde. 1942 schlossen die Nationalsozialisten die Mädchenschule, wie alle jüdischen Schulen in dem Jahr. Die meisten Lehrkräfte wie auch die Schulkinder wurden später deportiert und kamen in Himmlers Todeslagern um.
Die Schule ist 1930 vom jüdischen Architekten Alexander Beer (1873–1944) im Stil der neuen Sachlichkeit als eines der letzten Bauwerke vor Kriegsbeginn geschaffen worden. Von ihm zeugen noch weitere Berliner Gebäude. Als Gemeindebaumeister, der er seit 1910 war, und Leiter des Bauamtes der Jüdischen Gemeinde Berlin stammen von ihm u.a. ein Altenheim in Schmargendorf und ein Waisenhaus in Pankow. Alexander Beer wurde im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet. Die ehemalige jüdische Mädchenschule steht auf dem Gelände der Jüdischen Gemeinde Berlin und ist seit 2009 wieder deren Eigentum. Seit 1951 hatte die Jewish Claims Conference darum gekämpft, den Holocaust-Opfern ihren Besitz und ihr Vermögen wieder zurückzugeben.
Künftig sollen an dem geschichtsträchtigen Ort Kunst und Gastronomie Menschen anziehen und ihnen so gleichzeitig die Bedeutung des Ortes nahebringen. Die 14 Klassenzimmer boten einst 300 Schülerinnen Platz, dazu kamen Direktoren- und Lehrerzimmer, eine Turnhalle und die Dachterrasse, auf der die älteren Schülerinnen ihre Pausen verbringen konnten. Nachdem Hitler und seine Schergen die Juden deportiert hatten, diente die Schule bis zum Kriegsende als Militärkrankenhaus. Danach lag sie in der DDR und im sowjetischen Sektor. 1950 wurde sie als Bertolt-Brecht-Oberschule wiedereröffnet. 1996 wurde die Schule aus Mangel an Schülern endgültig geschlossen.
Das Haus hat eine harte elegante Strenge, außen wie innen, und den Berliner Architekten Grüntuch Ernst ist es gelungen, unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes in nur neun Monaten das Gebäude so zu restaurieren, dass möglichst wenige alte Strukturen zugunsten neuer Mieter aufgebrochen wurden. Im Pauly-Saal scheint die Zeit angehalten. Moosgrüne Polster und mannshohe Klinkerfliesen sehen im venezianischen Lüsterschein so aus, als hätte es dort schon immer so ausgesehen. Die Macher des Restaurants „Grill Royal“ haben Geschmack bewiesen, auch bei der Bestückung der Bar. Kosher Class Room und der Deli bringen Leben ins Entrée.
Bloß im Hof des Gebäudes wird noch gebuddelt. Aber auf der Terrasse des Pauly-Saales stehen schon Tische und Stühle, und die laue Nacht kennt kein Ende.
Inge Ahrens