Grüne Wohnmaschinen

Passivhäuser sind besonders energieeffizient und so konstruiert, dass sie keine konventionelle Heizung brauchen. Vor allem Baugemeinschaften setzen auf diese Bauweise – doch damit stellen sie im Berliner Mehrfamilienhausbau noch eine Ausnahme dar.

Die Boyenstraße ist eine der Gegenden, die deutlich machen, warum Berlin als Stadt des dynamischen Wandels gilt. Noch vor wenigen Jahren war hier, ganz in der Nähe des ehemaligen Mauerstreifens, Niemandsland. Doch mit dem Bau der neuen Zentrale des Bundesnachrichtendienstes rückte die um die Ecke gelegene Boyenstraße in den Fokus von Projektentwicklern. Und jetzt wächst ein Mehrfamilienhaus nach dem anderen in die Höhe – die meisten initiiert von Baugruppen, in denen sich Bauwillige zusammentun, um ohne den Renditeanspruch eines Bauträgers gemeinschaftlich Eigentumswohnungen zu errichten.

Eins dieser Projekte ist das Mehrfamilienhaus in der Boyenstraße 34/35, in dem 21 besonders energieeffiziente Wohnungen zwischen 60 und 145 Quadratmetern Größe entstehen. Der Neubau entspricht, ungewöhnlich in der Berliner Innenstadt, Passivhausstandard – und das bedeutet, dass er pro Quadratmeter und Jahr höchstens 15 Kilowattstunden Strom für Heizung und Warmwasserbereitung benötigt. Zum Vergleich: Bei konventionellen Bestandsgebäuden sind es gut und gerne zehn Mal so viel. Ermöglicht wird diese Sparsamkeit durch eine hervorragende Dämmung der Gebäudehülle. Ein Passivhaus braucht keine konventionelle Heizung; die Wärme, die Bewohner, Kochherd und elektrische Geräte abgeben, reicht aus, um die Temperatur selbst bei Minustemperaturen im Freien auf über zwanzig Grad zu halten. Unverzichtbar ist allerdings eine kontrollierte Lüftung. Dabei wird die Wärme der verbrauchten Luft der frischen Luft zugeführt, die über die Lüftung in die Wohnräume gelangt.

Die Mehrkosten beim Bau werden durch die sehr geringen Energiekosten schnell wieder ausgeglichen.

Auch bei der Energiegewinnung setzt die Baugruppe in der Boyenstraße auf ökologische Mittel: Eine Photovoltaikanlage auf dem Dach und ein erdgasbetriebenes Blockheizkraftwerk sorgen dafür, dass das Haus mehr Energie erzeugt, als Bewohner und Gebäudetechnik verbrauchen. „Genau genommen müsste man deshalb von einem Plusenergiehaus sprechen“, sagt Architekt Christoph Deimel, der den Neubau zusammen mit seiner Büropartnerin Iris Oelschläger geplant hat. Deimel und Oeschläger gehören zu den Pionieren des innerstädtischen Passivhausbaus. Während Einfamilien- und Reihenhäuser im Passivhausstandard keine Seltenheit mehr sind, gibt es in Berlin bisher erst etwa ein halbes Dutzend Beispiele für mehr-geschossige, innerstädtische Passivhäuser. Eines der ersten Projekte – ein siebengeschossiges Wohnhaus in der Schönholzer Straße in Berlin-Mitte – realisierte ebenfalls das Büro Deimel Oelschläger. Weitere verwirklichte Vorhaben finden sich beispielsweise am Arnimplatz in Prenzlauer Berg und an der Kolonnenstraße in Schöneberg.

Tatsächlich stellt Architekt Christoph Deimel eine gewisse Reserviertheit gegenüber der Passivhaustypologie fest: „Es gibt mehr Leute, die wissen, was bei einem Passivhaus nicht funktioniert, als Leute, die wissen, warum es gut ist.“ Auch finde man in der Hauptstadt wenig Handwerksfirmen, die Erfahrung im Bau von Passivhäusern hätten. Dabei sind die Vorbehalte nach Überzeugung Deimels unbegründet: Gute Dämmung, kontrollierte Lüftung und Dreifachverglasung seien angesichts der heutigen energetischen Anforderungen sowieso für jeden Neubau erforderlich. Auch die Mehrkosten hielten sich mit drei bis fünf Prozent gegenüber einem konventionellen Neubau im Rahmen – zumal sie durch die viel geringeren Energiekosten im Betrieb rasch kompensiert seien.

Diese Argumente scheinen die großen Berliner Wohnungsbaugesellschaften und Bauträger aber noch nicht überzeugt zu haben. Weiter ist da die Pro Potsdam GmbH: Das kommunale Wohnungsunternehmen der brandenburgischen Landeshauptstadt errichtet derzeit im Bornstedter Feld ein vierstöckiges Mehrfamilienhaus mit 16 Wohnungen, das die Anforderungen der Passivhaus-Zertifizierung erfüllt.

Anders als bei den Berliner Baugruppenprojekten werden im Potsdamer Passivhaus nicht Eigentümer wohnen, die sich aus ökologischer Überzeugung bewusst für diese Bauweise entschieden haben, sondern normale Mieter, die sich vermutlich nicht intensiv mit technischen Details auseinandersetzen wollen. Geplant ist deshalb laut Horst Müller-Zinsius, dem Geschäftsführer der Pro Potsdam, das Passivhaus nach seiner Fertigstellung einem Monitoring zu unterziehen. „Am Ende dieses Pilotprojektes“, so Müller-Zinsius, „werden wir sagen können: Was ist an einem Mehrfamilienhaus im Passivhausstandard massentauglich und was nicht?“

Müller-Zinsius spielt damit auf Bedenken an, die sich auf das Lüftungsverhalten beziehen: Wer im Passivhaus nicht auf die automatische Lüftung vertraut und wie gewohnt mittels geöffneter Fenster lüftet, kann im Winter nicht auf kuschelige Wärme hoffen. Allerdings scheint dieses Problem durchaus beherrschbar zu sein. Das zeigen die Erfahrungen der ABG Frankfurt Holding: Der kommunale Wohnungskonzern der Stadt Frankfurt am Main ist nach eigenen Angaben mit über tausend fertiggestellten oder in Bau befindlichen Wohnungen im Passivhausstandard weltweit führend bei dieser besonders energiesparenden Bauweise – und erfreut die Mieter dieser Wohnungen mit ausgesprochen niedrigen Nebenkosten.

So weit ist man in Berlin noch lange nicht. Aber weitere mehrgeschossige Passivhäuser werden voraussichtlich bald hinzukommen – und zwar am Rande des Technologieparks Adlershof. Im dortigen Baugebiet „Wohnen am Campus“ planen zwei Baugemeinschaften insgesamt über hundert Wohnungen im Passivhaus- und teilweise Plusenergiestandard. Auch hier ist das Büro Deimel Oelschläger mit von der Partie; es hat zusammen mit den Architekturbüros dmsw und Zoomarchitekten die Plusenergiesiedlung Newtonprojekt initiiert. Die zweite Baugruppe betreut Frank Müller, der Inhaber des auf Passivhäuser spezialisierten Architekturbüros Müllers Büro. Er ist sich sicher, dass Passivhäusern die Zukunft gehört: „Durch das optimale Gesamtpaket aus hochwertiger Gebäudehülle und neuester Technik sind die Wohnhäuser schon heute auf kommende Energiepreissteigerungen vorbereitet.“

Paul Munzinger

 

51 - Sommer 2012