Fotos, die aufschrecken

Mit unverfälschten und schonungslosen Bildern gehört Diane Arbus zu den Wegbereiterinnen einer neuen Ästhetik in der Fotografie. Retrospektivisch zeigt der Martin-Gropius-Bau das Werk einer eigenwilligen exzentrischen Künstlerin.

Als mehr oder weniger banale Liebesgeschichte inszenierte Steven Shainberg 2006 „Fell“, eine Filmbiografie über die in den 1960er Jahren berühmt gewordene Fotografin Diane Arbus. Trotz Starbesetzung mit Nicole Kidman in der Hauptrolle waren die Kritiken zurückhaltend wegen des enttäuschenden Plots. Das Drehbuch lehnte sich an das in deutscher Überset­zung erschienene Buch „Schwarz und Weiß“ von Patricia Bosworth, die darin – ebenso wie der Film – nur oberflächlich der eigenwilligen Künstlerin und ihrem Werk nahekommt.

Im Martin-Gropius-Bau bietet sich jetzt die Möglichkeit, an Hand von etwa zweihundert ­Fotografien in die Bilderwelt der Diane Arbus einzutauchen und sie als eine außergewöhnliche, hoch komplizierte und widersprüchliche Künstlerpersönlichkeit kennenzulernen.

Aufgewachsen als Diane Nemerov in New York, fand sie vor allem in ihrer Heimatstadt die Motive und Anregungen, die ihre spätere künstlerische ­Arbeit prägten. Bereits mit 14 Jahren lernte sie Allen Arbus kennen, den sie vier Jahre später heiratete. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, hielt fünfzehn Jahre. Anfangs ernährte das vom Ehepaar gegründete Studio für Modefotografie die Familie. Zwischen 1960 und 1971 verdiente Diane Arbus ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als freie Fotoreporterin für verschiedene Magazine. Einige ihrer besten Arbeiten entstanden im Zusammenhang mit kommerziellen Aufträgen. Nach ihrem Suizid 1971 wurde sie als erste amerikanische Fotografin auf der ­Biennale in Venedig ausgestellt. Im gleichen Jahr zeigte das Museum of Modern Art eine Diane-Arbus-Retrospektive. Teilweise von Unverstand und Ablehnung begleitet, doch letztlich mit großem Erfolg, denn ihre Bilder setzten neue ästhetische Maßstäbe. In Deutschland waren Bilder von ihr 1977 auf der Documenta 6 in Kassel zu sehen.

Diane Arbus litt zeitlebens unter Depressionen. Sie grenzte sich frühzeitig von ihrem bürgerlichen Elternhaus ab und suchte ihre Motive an den sogenannten Rändern der Gesellschaft: beispielsweise in Bordellen, Gefängnissen, auf Jahrmärkten oder auch in Leichenschauhäusern. Es entstanden Porträts, die in ihrer Andersartigkeit oftmals schockierten und provozierten. „Fotografien, die Bewunderung verdienen, haben die Kraft aufzuschrecken“, so ein Credo von ihr. Manche Fotos wurden auf der großen MoMA-Ausstellung in New York 1972 sogar bespuckt. Es sind Porträts von Obdachlosen, Transvestiten, Prostituierten, Tätowierten, Behinderten, Exzentrikern, Artisten, aber auch von Prominenten, Kindern und Familien. Im Film ist es ein Liebhaber, der Nicole Kidman als Diane Arbus in die Welt der gesellschaftlichen Außenseiter führt. Tatsächlich empfand sich Diane Arbus immer als eigenständige und eigenwillige Person mit Bedürfnissen, die für eine Frau damals keineswegs als normal galten. Vielmehr liebte sie die Extreme, sowohl in ihrer künstlerischen Arbeit als auch privat. Auf ihrer Suche nach Wahrhaftigkeit und Authentizität überschritt sie Grenzen und ignorierte Tabus, bis hin zur Obsession. Mit dem Ergebnis, dass die Fotos ihren gewöhnlich ausschließlich dokumentarischen Charakter verloren. Der Betrachter nimmt nun Fotografin und Modell bzw. Sujet als neue künstlerische Offenbarung wahr. Und das, obwohl die Bilder oft als hässlich, grotesk, alltäglich und mit großer Fremdheit beschrieben werden. Es sind die Figuren selbst, die sich als das darstellen, was sie sind, natür­lich und ungestellt.

Mit derartigen Aufnahmen hat Diane Arbus die Latte in der Fotografie höher gelegt.

Spektakulär gestaltete sie auch ihr Privatleben, denn nicht nur beim Fotografieren, auch beim Sex suchte sie „authentische Erfahrung“, was sie durchaus freimütig propagierte. Sie hob die Schranken zwischen privatem und öffentlichem Leben auf – vor und hinter der Kamera. So beschrieb Patricia Bosworth Diane Arbus in ihrer Biografie.

Nicht zuletzt deshalb war es den Ausstellungsmachern wichtig, den fotografischen Arbeiten in der Ausstellung des Martin-Gropius-Baus eine ausführliche und kritische ­Dokumentation von Leben und Werk der Künstlerin folgen zu lassen. Im Übrigen sind neben den berühmt gewordenen Aufnahmen auch einige Bilder zu sehen, die bislang noch nicht veröffentlicht wurden.

Reinhard Wahren


Information
Diane Arbus – Retrospektive
22. Juni bis 23. September 2012
Martin-Gropius-Bau
Niederkirchnerstr. 7
10963 Berlin

Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Montag 10 bis 19 Uhr
Dienstag geschlossen

 

51 - Sommer 2012
Kultur