Alle wollen die Eisbären sehen

Berlin ist zum sechsten Mal deutscher Eishockey-Meister. Doch die Mannschaft strebt weitere Superlative an.

Manchmal drückt sogar die Polizei ein Auge zu. Und alle sind begeistert. Schließlich sind die Schutzleute auch Fans der Sportler, die so ausgelassen feiern, dass sie die Straßenverkehrsordnung mal übertreten. Wenn auch nicht grob, eher spaßig. Da passt es durchaus ins Bild, dass ein Berliner neben einem offenen Cabrio herrennt und seinem Leiblingssportler eine Currywurst im Brötchen reicht. Und es wird auch geklatscht, wenn ein Mann nur auf dem Trittbrett des Autos steht, Kusshändchen ins Publikum wirft und immer mal wieder mit rauher und absolut unmusikalischer Stimme in den Song „We are the Champions“ einzufallen versucht.

Diese Parade feierte sich am 27. April vom Olympischen Platz quer durch Berlin bis zur riesigen Sportarena am Ostbahnhof. Und es bringen nur die Eisbären fertig, jene O2 World zu füllen, wenn sie nicht einmal spielen oder wenigstens ihre Schläger dabei haben. Trotzdem jubelten Tausende, als die Kult-Mannschaft ihren sechsten deutschen Meistertitel im Eishockey feierte und sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit mit einem Versprechen in die Schar der Gratulanten einreihte: „Wir werden uns um die Eishockey-Weltmeisterschaft 2017 bewerben, und Berlin soll einer der beiden Ausrichterorte sein“, sagte der Politiker beim Eintrag der Sportler ins Goldene Buch der Stadt.

Die Fans, die Politiker, selbst die Gegner erfüllten den Puhdy-Song „He, wir woll'n die Eisbären sehen“ nicht nur die ganze Saison hindurch, sondern auch noch danach mit Leben. Bei den Heimspielen tobten meist 14.200 Zuschauer in der oft ausverkauften Riesenschüssel im Friedrichshain, die den Wellblechpalast in Hohenschönhausen als würdige Spielstätte des Champions abgelöst hat. Das Meisterspalier an jenem April-Freitag verfolgten mehrere Tausend Berliner und ebenso viele fotografierende Touristen. Und für die nächste Saison sind die Eisbären zu einem Höhepunkt der besonderen Art eingeladen: Am 5. Januar 2013 bestreitet der sechsmalige Champion bei den Nürnberg Ice Tigers das erste Freiluftspiel der Geschichte in der Deutschen Eishockey-Liga. 50.000 Zuschauer werden dabei im fränkischen Fußballstadion erwartet. „Mit der Nationalmannschaft durfte ich schon in Gelsenkirchen in der Fußball-Arena spielen. Das war unglaublich, ein echter Höhepunkt meiner Karriere“, blickt Berlins National-Verteidiger Constantin Braun auf die WM 2010 zurück und macht gespannt auf die Schau in Nürnberg.

Die Feier nach einer unglaublichen Saison begann schon wenige Minuten nach dem entscheidenden Sieg in der Kabine. Auf die Frage von Publikumsliebling Sven Felski „Wo ist denn mein Meister-Bier?“ rollten die Mannschaftsverantwortlichen in der Tat mittels einer Sackkarre eine komplette Schankanlage in die Umkleide. Und so konnte Felski, der seinen Übermut zuvor mit einem Sprung ins Entmüdungsbecken – in voller Montur und mit Schlittschuhen – abgekühlt hatte, sein Pils genießen. Der 37-Jährige, der zuvor neben der zwölfjährigen Tochter Laura noch lange fast andächtig auf der Eisfläche gesessen hatte, wurde von seinen Fans extra gefeiert. „Mein tausendstes DEL-Spiel, und das mit so einem Abschluss. Es ist einfach unglaublich“, sagte der Ur-Berliner vor der ausgiebigen Feierorgie noch und ließ weiter offen, ob er den zahlreichen Zugaben noch ein weiteres Jahr im Eisbären-Trikot anhängen wird.

Denn die kraftraubende Feierei nach Titel Nummer sechs war das eine, die noch zehrendere Saison mit dem denkwürdigen Finale das andere. „Wir können ja nicht nur Siege feiern, wir müssen sie uns auch erst erarbeiten“, schilderte Felski Tage später. Und da haben die Berliner, die aus dem totgesagten Dynamo-Club in Hohenschönhausen hervorgegangen sind und ihre Tradition durchaus stolz bewahren, in der Saison wirklich fast Einmaliges geleistet. Festzumachen ist der unbändige Kampfeswille der Mannschaft am vorletzten Spiel dieser auf drei Siege anberaumten Finalrunde gegen den Erzrivalen Adler Mannheim. Die Kurpfälzer hatten nach jeweils einem Heimsieg der Rivalen den Eisbären in Spiel drei ein Schnippchen geschlagen und wollten den ersten Titel seit 2007 in der heimischen Arena feiern. Die Konfetti-Berge hingen abwurfbereit unter der Hallendecke, und im VIP-Raum wurden bereits die Sektflaschen entkorkt, als die Mannheimer im vierten Spiel 14 Minuten vor dem Ende mit 5:2 führten und sich am Ziel ihrer Träume wähnten.

Doch da schlug die Stunde der scheinbar besiegten Gäste. Die nächs-ten acht Minuten ließen den Sekt der Adler warm werden, und die Konfetti-Säcke hängen wohl heute noch unter dem Hallendach. Die Eisbären holten Tor um Tor auf und schossen den verdutzten Gastgebern durch T. J. Mulock, der mit Vornamen eigentlich Travis James heißt, aber nur mit den Abkürzungen auf die Protokolle gelangt, sogar das 6:5 in den Drahtkäfig. Nun war es an den Berlinern, den Schampus kalt zu stellen und für Konfetti in der O2-Arena zu sorgen. Als erste Mannschaft der Deutschen Eishockey-Liga gewannen sie zwei Tage später ein fünftes und entscheidendes Playoff-Spiel in eigener Halle und ließen die Adler nach jenem 3:1 mit leeren Händen zurück.

„So etwas geht nur, wenn du als Mannschaft funktionierst. Wir glauben immer an uns“, erklärte Felski den Triumph. Und die Spieler sind sich einig, dass ihr Trainer einen gehörigen Anteil daran hat. Der 55 Jahre alte Don Jackson hat seine eigene Methode, mit den Profis umzugehen. „Bis zu einem gewissen Punkt lässt er uns Freiräume. Er greift nur ein, wenn etwas schief läuft“, verriet Constantin Braun, warum der Amerikaner in der Öffentlichkeit auch als „stiller Don“ bekannt ist. Dass Jackson mehr die ruhige Art als den Polterstil bevorzugt, zeigt seine eigene Philosophie. „Das Können des einzelnen Spielers, sein Einsatz auf dem Eis und wie schnell er sich von Fehlern erholt, definiert für mich die Länge der Leine.“

Die Eisbären zeigen, dass sie auch auf Titel Nummer sieben heiß sind. Schließlich gibt es mit dem ersten Spiel unter freiem Himmel, das sie in Nürnberg unbedingt gewinnen wollen, wieder eine neue Anekdote in die Chronik zu schreiben.

Hans-Christian Moritz

 

51 - Sommer 2012
Sport